Schwarzes Schaf: Wenig bekannter Bruder von Jacob und Wilhelm
Er war gewissermaßen das schwarze Schaf seiner Familie: Zwar verkörperte Ferdinand
Grimm einen begnadeten Sammler von Märchen, steht jedoch bis heute im Schatten seiner
berühmten Brüder Jacob und Wilhelm. Anlaß für einen näheren Blick auf diesen Außenseiter.
Ein Beitrag von Dr. Mario Kandil
Hinter dem übergroßen Denkmal der Brüder Grimm ist er fast komplett verschwunden: der 1788 in Hanau geborene und 1845 in Wolfenbüttel verstorbene Ferdinand Philipp Grimm. Der Welt sind heute in der Regel nur Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) als „Brüder Grimm“ bekannt, die sich als symbiotisches Arbeits- und Lebenspaar sahen, was eine Fülle von Briefen und Büchern belegt. Der malende Bruder Ludwig Emil ist nicht so unbekannt wie Ferdinand; es gab jedoch noch zwei Geschwister: Carl Friedrich und Charlotte. Mit dem Druck, der von der Prominenz Jacobs und Wilhelms ausging, kam Ludwig Emil noch am besten zurecht: Er wurde später Kunstprofessor. Den drei Brüdern gegenüber ließen es Jacob und Wilhelm nicht an fürsorglicher Strenge und an pekuniärer Unterstützung fehlen.
Nach dem frühen Tod der Eltern übernahm Jacob den Part des Familienoberhaupts und hielt gemeinsam mit Wilhelm die verwaiste Familie zusammen. Doch die drei jüngeren Brüder Grimm wollten sich den älteren durch Schreiben und Sammeln annähern. Dies galt speziell für Ferdinand, der sich bei seinem Umzug nach Wolfenbüttel in das Adressenbuch der Stadt als „Schriftsteller“ eintragen ließ. 1803 verließ er mit Ludwig Emil Steinau/Straße, um in Kassel das Lyceum Fridericianum zu besuchen. 1805 verließen die beiden dieses mit dem Ziel, „sich vom Schreiben zu nähren“. Ferdinand tat dies zunächst als Kopist, indem er Clemens Brentano bei der Edition des Bandes III von „Des Knaben Wunderhorn“ half. 1812 zu seinem Bruder Ludwig Emil nach München umgezogen, sammelte Ferdinand ab da mit viel Eifer Sagen, Sprüche, Märchen und Legenden. Er pflegte Umgang mit Autoren und Wissenschaftlern und ging Ludwig Emil durch Besserwisserei auf die Nerven.
„Enfant terrible“ der Grimms
In der Tat war Ferdinand, der über viele Fähigkeiten und noch mehr Interessen verfügte, das „Enfant terrible“ der Familie Grimm. Oft war er krank, und immer mangelte es ihm an Geld. Das alles machte es Jacob und Wilhelm auf Dauer schwer, ihren zweitjüngsten Bruder zu lieben und zu alimentieren. In ihren Briefen an ihn beklagten sie bei ihm einen Mangel an Zuverlässigkeit, Lebensplanung, Wille zur Arbeit und vor allem Fleiß. Ferdinand überforderte in vieler Hinsicht die wohlmeinenden, aber in ihrem Wertekanon gefangenen Brüder.
Korrektor und Korrespondent
Er half ihnen bei ihrer Arbeit an der Sammlung ihrer „Deutschen Sagen“, deren beide Bände 1816 und 1818 erschienen, versprach jedoch offenbar mehr, als er letzten Endes hielt. Im März 1815 begann Ferdinand seine Arbeit als Korrektor und Korrespondent im Berliner Verlag Georg Reimer, die ihm seine Brüder vermittelt hatten. Die 20 Taler Monatslohn reichten aber nicht, und wieder mußte er um Geld bitten, was den Ton der Brüder in ihren Briefen stark abkühlen ließ. 19 Jahre lang blieb er bei Reimer, bis er entlassen wurde, weil er nach Ansicht des Verlegers seinen Aufgaben nicht gewachsen war. 1836 zog er schließlich – wohl wegen der berühmten Bibliothek – nach Wolfenbüttel um.
Die Volkssagen der Deutschen
Bereits 1820 war unter dem Pseudonym Lothar die erste von Ferdinands Sagensammlungen, „Volkssagen und Märchen der Deutschen und Ausländer“, erschienen, wobei das überaus ausführliche Vorwort seine stupenden Kenntnisse beweist. Beim Redigieren der Sagen fand Ferdinand einen eigenen Ton: Der klingt nicht altdeutsch, sondern eher auf schaurige Art romantisch und unterhaltsam. Unter dem Namen Philipp von Steinau brachte Ferdinand Grimm 1838 seine zweite Sammlung heraus, die „Volkssagen der Deutschen“.