von Wolfgang Dvorak-Stocker
Österreichs Bundeskanzler Leopold Figl (1945–1953) hat die Steirer einmal als die „Fußmaroden der Völkerwanderungszeit“ bezeichnet. Die Obersteiermark mit ihrer laut genetischen Untersuchungen zum allergrößten Teil bajuwarischen Bevölkerung kann er damit nicht gemeint haben, eher die Ost- und Weststeirer. Für die im Vergleich zu anderen alpinen Regionen weit geringer entwickelte bäuerliche Kultur der mittleren Steiermark war aber ein anderer Grund als die dort stärkeren keltischen und slawischen Volksanteile ausschlaggebend.
Kruzitürken!
Zweieinhalb Jahrhunderte lang fielen immer wieder Türken und aufständische Ungarn („Kuruzen“) in der östlichen und westlichen Steiermark raubend, mordend und brandschatzend ein. Der Fluch „Kruzitürken!“ (aus Kuruzen und Türken) kündet noch heute davon. Ein selbstbewußtes Bauerntum mit reichhaltiger Realkultur konnte sich so nicht entwickeln. Daher hätte sich ein Murtaler Bauer früher mit einem oststeirischen Standesgenossen kaum an einen Tisch gesetzt. Dem Obersteirer fiel darüber hinaus auch die geringere Arbeits-, Sauberkeits- und Ordnungsliebe der mittelsteirischen Bevölkerung als „unangenehm östlich“ auf, wie der Dichter Max Mell berichtete.
Kröpfe
Durch den zu geringen Jodgehalt im Wasser war darüber hinaus vor allem in der Weststeiermark der durch Schilddrüsenunterfunktion verursachte weiche Kropf weit verbreitet – so sehr, daß er sogar zum Bestandteil des regionalen Schönheitsideals wurde. In manchen Regionen der Steiermark waren so in der Mitte des 19. Jhds. weniger als 5% der Stellungspflichtigen militärdiensttauglich.
Uneheliche Kinder
In keinem Gebiet Europas war der Anteil unehelicher Geburten so hoch wie im alpenländischen Österreich: mehr als 30% während des gesamten 19. Jhds. Das hatte auch ökonomische Gründe. Die Leitha bildete die Grenze zwischen den zwei maßgeblichen Familientypen Europas: Im Osten dominierte die Stammfamilie. Auf den Bauernhöfen lebten und arbeiteten fast nur Blutsverwandte zusammen, auch die bereits verheirateten Kinder des Altbauern. Wo es Gesinde gab, war dieses verheiratet und lebte auf eigenen Kleingehöften. Im Westen herrschte hingegen die Ausgedingefamilie vor – erst wenn der Bauer den Hof übergab und sich mit seiner Frau ins Ausgedinge zurückzog, konnte der Haupterbe heiraten. Zudem erforderte die Viehwirtschaft des Alpenraumes eine Vielzahl von Knechten und Mägden; anders als etwa Winzer konnte man sich nicht saisonal mit Tagelöhnern behelfen. So saßen auch auf mittelgroßen alpenländischen Höfen oft über 30 größtenteils nicht miteinander verwandte Personen aller Altersstufen rund um den Tisch – und mit ihnen das Pärchen „Versuchung und Gelegenheit“. Dazu kam noch, daß bei der Geistlichkeit um „Eheerlaubnis“ angesucht werden mußte und diese aus ökonomischen Gründen Ärmeren meist verweigert wurde. Auch angehende Hoferben vermieden, „die Katze im Sack zu kaufen“ – wenn sie ein Mädchen heimführen wollten, mußte dieses erst beweisen, daß es in der Lage sei, gesunde Kinder zu gebären. In der Folge waren uneheliche Kinder keine Schande, auch für Mägde nicht, die selbst mit mehreren unehelichen Kindern kaum Schwierigkeiten hatten, auf neuen Bauernhöfen unterzukommen. Die Bauern zogen die kleinen Kinder gemeinsam mit den ihren auf und verwendeten sie, sobald es möglich war, als zusätzliche, unbezahlte Arbeitskräfte.
In der Steiermark war die Rate unehelicher Geburten wiederum österreichweit am höchsten, was vor allem auf die „Sinnesfreude“ der Bevölkerung zurückzuführen sein dürfte, die Autoren des 19. Jhds. immer wieder hervorheben. Volljährige Jungfrauen, so schreibt ein Autor um 1850, wären in der Steiermark nur schwer zu finden. Volljährig wurde man damals allerdings erst im Alter von 24 Jahren!
Fromm, fröhlich, frei
Auch die große Frömmigkeit der deutschen wie der slawischen Bevölkerung der Steiermark wird von verschiedenen Autoren des 19. Jhds. hervorgehoben, die jedoch gleichzeitig betonen, daß bigotte Züge gefehlt hätten. Überall stehen Kirchen und Kapellen, Kreuze und Denksäulen mit Abbildungen von Heiligen; öfter als in allen anderen katholischen Ländern begegnete man singenden und betenden Prozessionen.
Auch die Sanges- und Tanzlust wird hervorgehoben, in einem 1860 erschienenen, Erzherzog Johann gewidmeten Werk heißt es über die Jodler, daß sie von einer Alm zur anderen hinübergerufen , das Hochgebirge beleben und „in der Brust des Hörers bis dahin nicht empfundene Gefühle“ erzeugen würden, „eine unendliche Sehnsucht und ein unwiderstehliches Verlangen emporzudringen in jene Regionen, aus denen diese Melodien ins Tal herabklingen“.
So freundlich und offen der Obersteirer dem Fremden begegnete, vor allem in den von Reisenden noch weniger besuchten Seitentälern, so stark war auch der Freiheitsdrang, der sich nicht nur im vor allem in der Obersteiermark und im Salzkammergut verbreiteten (Geheim-)Protestantismus zeigte, sondern auch in der regelmäßig betriebenen Wilderei. Noch heute kann man in alten Bauernhäusern dunkle Blutflecken an den hölzernen Wänden wahrnehmen, vorzugsweise hinter großformatigen Marienbildern über dem Ehebett, wo die gewilderten Tiere abhingen.
Untersteiermark
Ganz anders waren die Verhältnisse in der vom Weinbau geprägten und vom slowenischen Volkstum dominierten Untersteiermark. Deutsche Bauern gingen dort in den Landgemeinden langsam im Slowenentum auf; in den wenigen kleinen Städten wie Marburg, Cilli und Pettau war die Entwicklung genau umgekehrt. Heute gehört die Untersteiermark nicht mehr zu Österreich, doch die dort siedelnden Slowenen bezeichnen sich stolz nach wie vor als „Steirer“. Zu einer stärkeren Unterstützung oder auch nur Anerkennung des verbliebenen, winzigen Restes der deutschen Minderheit hat dies leider nicht geführt.
Brücke und Bollwerk
Die Steiermark war der „Hofzaun“ des Heiligen Römisch-Deutschen Reiches, mit Graz als der südöstlichsten Universitätsstadt des geschlossenen deutschen Siedlungsbodens. Von den jahrhundertelang wiederkehrenden Bedrohungen aus dem Süden und Osten haben wir schon eingangs berichtet. Das Landplagenbild am Grazer Dom vom Ende des 15. Jahrhunderts schildert denn auch die drei Gefährdungen der Steiermark in dieser Zeit: Pest, Heuschrecken – die sechs mal bis zum 18. Jhd. in einer die Sonne verdunkelnden Zahl über das Land herfielen – und, als größte Plage, die Türkeneinfälle, die bis 1683 die Steiermark bei einer halben Million Einwohnern mehr als 300.000 Menschen und in die Sklaverei geführte Gefangene kostete.
Zum südöstlichen Europa war die Steiermark für viele Jahrhunderte Bollwerk, später auch Brücke. Um das Deutschtum in den ethnischen Mischgebieten im Süden des eigenen Landes, die Gottscheer in der Krain und die Donauschwaben noch weiter im Süden zu unterstützen, wurde 1889 der „Alpenländische Kulturverein Südmark“ gegründet, der bald 88.000 Mitglieder zählte. „Uns zum Schutz,
niemandem zum Trutz!“, gab Peter Rosegger 1909 als Parole vor. Den „Alpenländischen Kulturverein“ gibt es in Graz noch heute, wie die „Österreichische Landsmannschaft“ in Wien. Seine Aufgaben sind im neuen Europa nicht geringer geworden – im Gegenteil. „Heimat ist nicht Enge, sondern Tiefe“, formulierte der steirische Politiker und Vordenker Hanns Koren schon vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Protestantismus
Der Augsburger Religionsfriede von 1555 legte fest, daß im Reich die in den einzelnen Ländern Herrschenden entscheiden könnten, welche Konfession zugelassen sei. Doch obwohl die Steiermark seit dem Mittelalter zu den habsburgischen Erblanden gehörte, breitete sich der Protestantismus unter den Bürgern und Adeligen des Landes aus. In vielen Städten waren in der zweiten Hälfte des 16. Jhds. katholische Prozessionen und sogar Messen nicht mehr möglich, Alkohol, Tanzen und Spiele wurden verboten. Ab 1590 rekatholisiert der neue Landesherr, der spätere Kaiser Ferdinand II., das Land zwar durchaus gewaltsam, aber völlig unblutig. Protestantische Bücher wurden verbrannt, lutheranische Prediger des Landes verwiesen. 700 Adelige, Bürger und Handwerker verließen aus Glaubensgründen die Steiermark, unter ihnen auch Johannes Kepler, der in Graz lehrte.
Nur zweieinhalb Jahrzehnte später kommt es zur Nagelprobe: Gegen den 1619 in Frankfurt frisch gekrönten
Ferdinand II. befinden sich nicht nur die Böhmen im Aufstand, sondern auch Oberösterreicher und Niederösterreicher. Vor Wien steht zudem ein siebenbürgisches Heer; der Kaiser kann nicht in seine Residenzstadt zurückkehren, seine Herrschaft scheint bereits am Ende, nur der Weg nach Graz steht noch offen. Hätten die steirischen Stände ihrem Landesherrn damals das Tor verschlossen, wäre die Geschichte wohl anders verlaufen. Sie aber öffnen ihm nicht nur die Stadt, sondern statten Ferdinand auch mit einem großzügigen Geldgeschenk aus, das ihm ermöglicht, Truppen aufzustellen, gegen die Aufständischen vorzugehen und in jenen Konflikt einzutreten, der zum Dreißigjährigen Krieg werden sollte.
Nationalismus
Das Erwachen der nichtdeutschen Nationalitäten im 19. Jhd. führte im Grenzland Steiermark zu einem lautstarken Nationalismus, der nicht nur die Studentenverbindungen, sondern auch das Bürgertum insgesamt prägte. Die Badenischen Sprachreformen (wonach auch in den rein deutschsprachigen Gebieten Böhmens einfache Beamte wie Briefträger beide Landessprachen beherrschen mußten) ziehen in der Steiermark blutige Ausschreitungen nach sich, ebenso wie die Forderung nach slowenischen Parallelklassen am Gymnasium von Cilli in der Untersteiermark. Heute scheint das unverständlich, doch die Stadt hat nur 6.000 Einwohner, die nächste deutsche Ortschaft ist zwei Bahnstunden entfernt. Bei ein paar Dutzend Akademikern, die eine solche Provinzstadt zählte, konnten einige slowenische Klassen und Professoren das labile nationale Gleichgewicht ins Wanken bringen.
Als es aber nach dem Zerfall der Donaumonarchie 1919 zum bewaffneten Konflikt kommt und in Marburg slowenische Truppen auf die für den Verbleib bei Österreich demonstrierenden Bürger schießen, verweigert die steirische Landesregierung im Unterschied zu Kärnten die Unterstützung des von Studenten und Einheimischen geplanten Aufstandes; die gesamte Untersteiermark mit 74.000 deutschen Einwohnern wird an Slowenien abgetreten.
Eine Hochburg des Deutschnationalismus’ bleibt die Steiermark trotzdem, und 1938 übernehmen die Nationalsozialisten einen ganzen Monat vor dem „Anschluß“ die Macht in Graz, das danach den Titel „Stadt der Volkserhebung“ führt. Während Graz in den 1970er-Jahren die erste österreichische Großstadt mit einem FPÖ-Bürgermeister ist, hat die steirische Landeshauptstadt heute eine kommunistische Bürgermeisterin. Dies liegt vor allem an der unideologischen Politik der hiesigen Genossen; Kommunisten sind die allermeisten ihrer Wähler gewiß nicht.
Aufsteirern
Schon im Jahr 2002 initiierte der FPÖ-Landesrat Leopold Schöggl ein Trachtenfest in Graz, das sich mit deutlich mehr als 100.000 Besuchern zum erfolgreichsten Volkskulturereignis Österreichs gemausert hat. Viele junge Grazer haben nur aus diesem Grund eine Tracht erworben. Das zeigt: Auch in der heutigen Zeit kann man unsere Volkskultur erfolgreich der Jugend näherbringen. Man muß nur wollen.
Trachteninsel Ausseerland
Generell wird in der Steiermark noch viel Tracht getragen, von „Konservativen“ der Steireranzug, von „Progressiven“ ein Trachtensakko zu Jeans. Auch die „Trachteninsel Aussee“ gehört zur Steiermark, in der bis heute auch in nichttouristischen Berufen Lederhose und Dirndl alltäglich sind – vor 30 Jahren noch generell, heute zumindest vereinzelt. Daß in Österreich generell viel mehr Tracht getragen wird als in der BRD, ist Gertrud Pesendorfer (1895–1982) zu verdanken, die als NS-Kulturfunktionärin die Frauentrachten von unzähligen Unterröcken und überflüssigem kiloschweren Stoff befreite, die Taille stärker betonte, das Dekolleté tiefer ausschnitt und schließlich durch kurzärmelige Blusen die Arme freilegte. Dadurch hat sie die überlieferten Trachten für unsere Zeit „tragbar“ und „sexy“ gemacht. In Tirol konnte sie ihr Wirken auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzen und hat vielfältige Ehrungen erfahren.
Über den Autor:
Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker ist Verleger in Graz.