von Jonas Schick
Unsere Zivilisation ruht auf einer technologischen Grundlage, die enorme Mengen fossiler Brennstoffe benötigt. Welche Sicherheit haben wir, daß unser Energiebedarf auch weiterhin durch fossile Brennstoffe gedeckt werden wird? Auf lange Sicht lautet die Antwort: keine. Die Erde ist endlich. Fossile Brennstoffe sind nicht erneuerbar. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere Energiegrundlage von denen aller früheren Zivilisationen. Sie hätten ihre Energieversorgung durch sorgfältige Bewirtschaftung aufrechterhalten können. Wir können das nicht. Einmal verbrannte Brennstoffe sind für immer dahin, resümierte der US-amerikanische Admiral Hyman Rickover, einer der Väter der zivilen Nutzung der Kernenergie.
Rickover trifft damit den Kern des Problems, vor dem unsere Industrie- und Konsumgesellschaften seit ihrer Entstehung stehen: Im Gegensatz zu allen vorangegangen Zivilisationsformen beruhen sie auf instabilen und nicht garantierten Grundlagen. Wesentlich für die Erkenntnis Rickovers ist ferner ein Aspekt, den die neoklassische Ökonomie bis heute ignoriert: Während sie Energie lediglich als Kostenfaktor betrachtet, definierte Rickover sie im Sinne der ökologischen Ökonomie als Produktionsfaktor. Der Journalist und Volkswirt Norbert Häring schrieb 2018 sekundierend in einem Artikel für das Handelsblatt: „In ökonomischen Standardmodellen kommt der wichtigste Produktionsfaktor kaum vor: Energie. Das hat praktische und gefährliche Folgen.“ Eine der von Häring angesprochenen gefährlichen Folgen ist die Ignoranz gegenüber einem existentiellen Zusammenhang
der Ökonomie:
Billige Energie, die im Überfluß vorhanden ist, bildet das konstituierende Fundament der Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz.
Verteuert sie sich oder ist nicht mehr ausreichend verfügbar, gerät die Wirtschaft ins Stottern. Als Konsequenz zurückgehender Ölprospektierungen und -bohrungen der Ölmultis aufgrund des Nachfrageeinbruchs während der Coronakrise und der Verknappung des Gesamtenergiemarktes durch die geopolitischen Auseinandersetzungen mit Rußland erleben wir momentan genau das: Dem Motor fehlt der Treibstoff.
Tragfähige Lösungen für dieses fragile Abhängigkeitsverhältnis sind trotz intensiver Bemühungen bis heute nicht gefunden. Zur Befreiung von den Energiesorgen setzt man seit Jahrzehnten auf die Flucht nach vorne – die Suche nach technologischen Lösungen –, die wiederum indirekt dazu geführt hat, daß die westliche Welt so viel fossile Energie verbraucht wie nie zuvor. Der weltweite Primärenergieverbrauch – der Energiegehalt aller eingesetzten Energieträger – lag im Jahr 2019, bevor die Coronapandemie dem wachsenden Energiehunger der Welt vorerst einen Dämpfer versetzte, bei 174.285 TWh. 1960, inmitten der Wirtschaftswunderjahre, lag dieser noch bei vergleichsweise „mickrigen“ 41.814 TWh. Verschwendete man in den 1960er Jahren kaum einen Gedanken an den effizienteren Einsatz jeder aus fossilen Energieträgern gewonnenen Kilowattstunde, dreht sich Anfang des 21. Jahrhunderts die ökonomische Diskussion um die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch – Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz sind omnipräsent. Energie wird heute als knappes Gut wahrgenommen, und betrachtet man die Förderquoten der alten, konventionellen Ölfelder in den USA oder der Nordsee, ist die Sorge durchaus angebracht.
Kernkraft oder erneuerbare Energien?
Derweil lasten die Hoffnungen zur Lösung des von Rickover treffend beschriebenen Problems auf zwei miteinander konkurrierenden technologischen Pfaden: der Kernenergie und den erneuerbaren Energien (EE). Erstere betrat bereits in den 1950er Jahren als Wundertechnologie mit allerlei Versprechungen das energiepolitische Parkett, letztere bekamen erst in den 1990er Jahren Aufwind – insbesondere wegen ihrer Darstellung als „grüne“ Energieerzeuger schlechthin und einer für immer drängender erklärten „Klimakrise“. Verengt man allerdings die ökologische Perspektive auf das Gas CO2 und reduziert „grün“ auf den Faktor „Klimaneutralität“, so gerät die von Fürsprechern der EE mißbilligte Kernenergie ironischerweise selbst zur grünen Zukunftstechnologie. Dieser Logik folgend ist es nur konsequent, daß die EU die Kernenergie Anfang des Jahres als „nachhaltig“ klassifizierte. Ungeachtet dessen kann die Kernenergie in ihrer aktuellen Form die fossilen Energieträger nur unzureichend substituieren und offenbart, sofern man bei der Definition des Adjektivs „grün“ über den Ausstoß von CO2 hinausgeht, relevante ökologische Negativauswirkungen. Erstens ist die Kernenergie selbst von einem endlichen Rohstoff abhängig, namentlich Uran; wären die 174.285 TWh Primärenergieverbrauch aus dem Jahr 2019 ausschließlich Kernkraftwerken entstammt, wäre die Ressource Uran schnell aufgebraucht. Zweitens entstehen beim Uranabbau erhebliche Belastungen für Mensch und Umwelt, u.a. durch radioaktiven Abraum.
Statische Kernkraft bzw. Kohle, dynamisches Öl, fluktuierende erneuerbare Energien
Rein ökonomisch betrachtet steht die Kernkraft ferner vor einem weiteren Problem, das ursächlich für das Nichteinlösen der mit ihr verbundenen vollmundigen Versprechen aus den 1950er Jahren ist: Sie ist zu statisch. Gegenüber dem fossilen Wundermittel „Öl“, das einfach zu fördern, zu verarbeiten und zu transportieren ist, bedarf es für die Nutzung der Kernenergie einer hohen technologischen Kompetenz und einer zentralisierten Großinfrastruktur. Dementsprechend fallen auch die Kosten der Kernkraft höher aus als bei den fossilen Energieträgern: Die Liste der teuersten Bauwerke der Welt ist gespickt mit Kernkraftwerken. Unter anderem wegen dieses Aufwands fällt der Erntefaktor (das Verhältnis zwischen eingesetzter zu gewonnener Energie) für Kernkraftwerke mit 14:1 relativ gering aus (für US-Öl aus den 1970er Jahren lag er bei rund 25:1). Daß die Kernkraft im Jahr 2019 lediglich 5% der weltweiten Primärenergienachfrage stillte, ist nur in Teilen auf ihren schlechten Ruf zurückzuführen, der außerdem hauptsächlich ein deutsches Phänomen darstellt. Vielmehr liegt es daran, daß die von Kernkraftwerken über ihre Lebensdauer produzierte Megawattstunde mit 92 bis 132 Dollar zu Buche schlägt, während die Megawattstunde aus einem Erdgaskraftwerk mit 61 bis 87 Dollar deutlich günstiger ausfällt – vor dem Russisch-Ukrainischen Krieg versteht sich.
Ohne Schrumpfung der Wirtschaft wird die Transformation im Sinne der Grünen nicht zu machen sein
Energie ist eben nicht gleich Energie: Die spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Primärenergieträgers, den eine Gesellschaft vorwiegend nutzt, prägen ihre sozioökonomische Struktur. Die klassische US-amerikanische Vorstadt oder das Einkaufszentrum am Stadtrand sind das Produkt der individuellen Motorisierung. Das, was man allgemein als „westlichen“ Lebensstil betitelt, gründet in der Nutzung von Öl. Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister sprach diesbezüglich vom „1950er-Syndrom“, das den Wechsel von der Kohle zum Öl als Hauptenergieträger in den westlichen Industrienationen beschreibe. Ein Wechsel, aus dem eine völlig neue Qualität des Wirtschaftswachstums und des Konsums hervorginge. Pfister sah in diesem Zusammenhang sogar das Scheitern der Sowjetunion begründet: Derweil der kapitalistische Westen die Produktionskräfte des Öls vollumfänglich zu nutzen wußte, verharrte der Sozialismus, trotz der partiellen Verwendung von Öl, in der Kohleökonomie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – der Braunkohlehunger der DDR steht dafür exemplarisch. Der Aggregatzustand der Energieträger spiegelt sich in den unterschiedlichen Systemen wieder: auf der einen Seite das flüssige Öl, auf der anderen Seite die feste Kohle – dynamisch gegen statisch.
Wollte man ein ähnliches charakterisierendes Adjektiv für die EE finden, wäre fluktuierend wohl das treffende. Gleichwohl man seit neuestem in der Umwandlung von EE-Strom zu Wasserstoff eine Lösung für die Nichtsteuerbarkeit der EE-Produktion gefunden haben möchte – die massiven Energieverluste bei diesem Prozeß in Kauf nehmend –, bleibt die Speicherfrage bei den EE bestehen. Sie ist ihre größte Hürde, um sich als die Zukunftsenergie durchzusetzen, als die sie von ihren Lobbyisten in ähnlicher Manier wie die Kernkraft in den 1950ern präsentiert wird. Aktuell geht es nicht ohne konventionelle Kraftwerke, die bei Windflauten und bedecktem Himmel einspringen. Doch diese in Bereitschaft stehende Reserve lassen sich die Energieversorger natürlich entlohnen, wodurch der EE-Strom, neben etlichen anderen Gründen, mittlerweile deutlich teurer als die Kugel Eis geworden ist, die der ehemalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin 2004 für die Energiewende noch vollmundig als Preis veranschlagte. Ironischerweise sind just Gaskraftwerke für das schnelle Einspringen, wenn die EE gerade keinen Strom liefern, am besten geeignet: keine „erfolgreiche“ Energiewende ohne Nord Stream 1 und 2. Aber bei diesen Kosten endet es nicht, sofern man es mit der Dekarbonisierung der Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz ernst meint. Aktuell basiert die Herstellung von Windkrafträdern und Solaranlagen sowie die weitere Forschung daran auf dem fossilen Energieregime. Sollte dies ab sofort durch von EE erzeugte Energie erfolgen, würden die Kosten rasant steigen.
Der aus Öl gewonnene Kohlenstoff durchzieht unsere gesamte Wirtschaft
Weil sie die Energiewende konsequent zu Ende dachte und die Folgen einer vollständigen Dekarbonisierung unserer Gesellschaften ungeschönt darlegte, sorgte die taz-Journalistin Ulrike Herrmann in den sozialen Medien für Aufsehen: Sie verdeutlichte, daß allein die bundesdeutsche Chemieindustrie unter diesen Bedingungen 685 TWh benötigte. Das wäre mehr Strom, als die BRD aktuell im Jahr verbraucht. Für Herrmann ist es daher offensichtlich: Ohne Schrumpfung der Wirtschaft wird die Transformation im Sinne der Grünen nicht zu machen sein. Die Diskussionen um die Notwendigkeit einer Postwachstumsgesellschaft beiseite lassend trifft Herrmann bei der Analyse der Leistungsfähigkeit der EE mitten ins Schwarze. Es bleibt zu konstatieren, daß aktuell sowohl die Kernenergie als auch die EE nicht dazu in der Lage seien, die fossilen Energieträger zu ersetzen. Auch die von Atomenthusiasten gern bemühte Kernfusion ist bis heute vor allem eines: ein Geldfresser.
Der Krieg auf den ukrainischen Feldern hat die Realität zurück aufs Energieparkett geholt und zertrümmert Tag für Tag die energiepolitischen Tagträumereien derjenigen, die denken, man könne Strom im Netz speichern. Jeden Testlauf im Versuchsreaktor ITER in Frankreich, jeden im Testbetrieb laufenden Schnellen Brüter, jedes Windkraftrad und jede Photovoltaikanlage können wir uns nur deswegen leisten, weil noch immer das Schwarze Gold aus Feldern wie Ghawar in Saudi-Arabien oder Burkan in Kuwait durch die Adern unserer Industrie- und Konsumgesellschaften fließt. Fällt im enggesteckten Rahmen der Energieförderung einer der relevanten Förderer aus oder bietet seine Ressourcen nicht mehr auf dem gesamten Weltmarkt an, geraten vermeintliche Selbstverständlichkeiten ins Wanken, und ein Netz aus verdeckten Abhängigkeiten tritt offen zu Tage.
Wehrloser Versagerstaat
Die jüngsten Anschläge auf Nord Stream 1 und 2 werden die europäische Energieabhängigkeit in Richtung der potentiellen Liquid-Natural-Gas-Lieferanten verschieben – USA, Katar, Saudi-Arabien u.a. – und die Gaspreise weiter in die Höhe treiben. Der Wettbewerbsvorteil, den die Bundesrepublik mit der Direktanbindung an russisches Gas gehabt hätte, ist dahin. Zurück bleibt ein wehr- und zahnloser Versagerstaat, der, anstatt seiner natürlichen Rolle als europäischer Mittelmacht nachzukommen und Europa so vor den Zugriffen fremder Mächte abzuschirmen, lieber weiterhin den apolitischen Aussteiger aus der Geschichte mimt und als Schatten seiner selbst langsam aber kontinuierlich, von der Weltbühne abtritt.
Über den Autor:
Jonas Schick, geb. 1989, ist Herausgeber und Chefredakteur der konservativen Umweltzeitschrift Die Kehre. Studium der Politikwissenschaft sowie der Soziologie und Sozialforschung (M.A.).
www.die-kehre.de