von Caroline Sommerfeld
Der Volkskundler Herbert Hahn hat in seinem Werk über den Genius Europas (1963/64) ein Kapitel mit „Deutsches auf drei Blättern“ überschrieben. Es könne, so schreibt er, in einem Volk Dinge geben, von denen man sagen möchte: Genug, daß sie da sind, sie wären an sich schon ausreichend, eine Volksseele ganz und gar zu bezeugen. Von dieser Art sind Albrecht Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel, Caspar David Friedrichs Morgenlicht und die Freischütz-Ouvertüre Carl Maria von Webers. Der Ritter verkörpert „das Mittendurch“: Den Tod und den Teufel muß er überwinden durch vollendete Ich-Stärke. „War im Kupferstich von Dürer alles Ich-Straffung, so ist im Bilde von Friedrich alles Ich-Hingabe“: Die von hinten ansichtige Frau staunt in das Morgenwunder hinein, ist ganz Gefühl. In Webers Freischütz wirken das Gute und das Böse zusammen das Gute. „Und so wissen wir immer, ob Furcht und Schrecken uns auch für Augenblicke in den Abgrund zu ziehen drohen, daß das Gute in Max, durch Agathe mitgehegt und gestärkt, siegen wird.“
Wenn es überhaupt möglich ist, intensiv – in kurzen, einprägsamen Bildern der Kunst – und nicht allein extensiv – durch Sprachwissenschaft, Geschichtserzählung, Schilderung von Persönlichkeiten – den Genius der Deutschen darzustellen, dann vielleicht auf die oben als Beispiel gegebene Art und Weise. Das Ringen des menschlichen Ichs mit dem Bösen um das Gute scheint die konzentrierte Kraft und Aufgabe des Deutschen zu sein – und zwar sowohl des Deutschen als des typischen, wesenhaft Deutschen im Gegensatz zum Wesen anderer Völker als auch des einzelnen deutschen Menschen.
Der „deutsche Genius“ bezeichnet sowohl die Volksseele als auch von ihr besonders geprägte und sie zum vollendeten Ausdruck bringende Individuen.
Der Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum hat in seinem Standardwerk Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythus und Pathographie des Genies (1927) dieses Ringen des Ichs mit dem Bösen um das Gute auf moderne wissenschaftliche Begriffe gebracht. Er spricht von den „Ich-Positiven“ und den „Ich-Negativen“ in der Geistesgeschichte.
„Der gesunde Mensch ist schön und sein Zustandekommen erstrebenswert. Aber es muß auch ein bißchen irgendwelcher Krankheit in ihn kommen, daß er auch geistig schön werde“, zitiert er den Dichter Christian Morgenstern. Die innere Unrast im Blut, die Ruhelosigkeit, die vielfach veränderte Stimmungslage lassen ihn dann viele Dinge in anderen Beleuchtungen erleben. „Ich-positive“ Genies waren etwa Lucas Cranach der Ältere, Carl-Friedrich Gauß, Joseph Haydn, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Joseph von Eichendorff, Thomas Mann und Oswald Spengler. Dagegen sind so verschiedene hervorragende Geister in ihrem Seelenleben teils phasenweise, teils lebenslang in unterschiedlichem Grade gestörte „Ich-Negative“ gewesen wie Johann Wolfgang von Goethe, Martin Luther, Ludwig van Beethoven, Heinrich Heine, Heinrich von Kleist, Richard Wagner oder Otto von Bismarck.
Viele große Deutsche waren vom Standpunkt des Psychiaters aus beurteilt seelisch nicht normal, einige regelrecht psychopathisch veranlagt.
Nun ist es mit dem Psychopathologisieren der großen Deutschen so eine Sache. Klar ist, daß psychotisches Erleben als „höchst eindrucksvoller Wirkungston des ganz Besonderen in den Genieakkord einfließen kann“ (Lange-Eichbaum). Problematisch wird es dann, wenn vom Werk nach eingehender medizinischer Begutachtung des Schöpfers nicht mehr als Trümmerteile übrigbleiben. Aber genau dieses Abstrahieren vom Leben, dieses Ordnungschaffen und Wegrationalisieren des Rätselhaften ist gleichzeitig ein Spezifikum deutscher Denkungsart. Zugleich ist es ein Verfallsphänomen: „Eine Zeit, die ihre Morbidität erkennt, beschäftigt sich zwangsläufig mit dem Morbiden der vor ihr lebenden Generationen; deswegen die Zunahme nicht nur aus psychiatrisch berufener Feder, sondern aus ebenso berufener von Psychologen, Literarhistorikern und nicht zuletzt auch Schriftstellern bis zum Romanautor“, liest man im Vorwort zur 6. Auflage von Genie, Irrsinn und Ruhm 1966.
Der „Ich-Negative“ wird, so möchte ich aus dem bisher Zusammengetragenen schlußfolgern, in tragischer Weise mit dem Bösen in ihm selbst konfrontiert und kämpft dagegen. Immer wieder äußert sich dann das Gute in genialischen Werken. „In der Dämmerung des Bewußtseins fühlte er sich im zunehmenden Dunkel eingekerkert. Der Leib vegetierte, doch die Seele irrte über weite Gefilde, die den Mitmenschen und der Zeit unerreichbar waren. Es war der unglückliche edle Friedrich Hölderlin“ (Herbert Hahn). Hölderlin läßt das Schicksalslied Hyperions mit den Worten enden:
Doch uns ist gegeben,
auf keiner Stätte zu ruhn,
es schwinden, es fallen
die leidenden Menschen
blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Die leidenden Menschen stehen im hellen Kontrast zu den „seligen Genien“, die „droben im Licht“ wandeln, also die geistige Welt bewohnen.
Genie hat immer auch etwas mit Verstoßensein aus der Götterwelt zu tun und dem deutlichen Fühlen, nicht in diese irdische Welt und recht eigentlich in eine höhere zu gehören.
Daß dieses Fühlen sich zu Größenwahn steigern kann, sehen wir an Friedrich Nietzsche, der in seinem letzten Brief an Jakob Burckhardt vom 6. Januar 1889 schreibt: „Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen.“
Das Genie Friedrich Nietzsche ist nicht ohne Rückgriff auf die Psychopathologie zu erklären, im Grunde aber müßte man sagen, er sei genial gewesen trotz Krankheit und nicht aufgrund derselben. Goethe hat in einem seiner Gespräche mit Eckermann am 20. Dezember 1829 unterschieden zwischen einem harmonischen und einem verletzten Genie: „Das Außerordentliche, was ausgezeichnete Talente leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein (… ) mögen. Nun ist eine solche Organisation im Konflikt mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht (…) mit großer Sensibilität eine außerordentliche Zähigkeit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen.“
Nietzsche hatte diese „Zähigkeit“ nicht, sondern ausschließlich „seltene Empfindungen“, die ihn sich gegen jedes Ideal, jede Tradition und jede Phrase seiner Zeit stellen ließen. Er wurde im Ringen des Ichs mit dem Bösen um das Gute vom Bösen überwältigt und endete bekanntlich in geistiger Umnachtung.
Sind wir als Volk wirklich „von allen guten Geistern verlassen“?
Wenn nun der deutsche Genius all die ihm eigentümlichen deutschen Genies von Dürer bis Goethe hervorgebracht hat, und wenn er im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnt, in eine Zeit einzutreten, die „ihre eigene Morbidität erkennt“, sodaß die eigenen Genies mit dem Maßstab der Psychopathologie beurteilt werden: Was wird dann aus diesem Genius?
Nach Krankheit und Selbsterkenntnis der eigenen Krankheit müßten eigentlich entweder Genesung oder der Tod folgen. Doch wie wir am Anfang sahen, eignet dem Deutschen der schließliche Sieg des Guten. Davon ist hierzulande derzeit nichts zu sehen, auch aus der Masse hervorragende Geistesgrößen werden seit einem Jahrhundert nicht mehr hervorgebracht. Sind wir als Volk wirklich „von allen guten Geistern verlassen“? Ich hatte vor drei Jahren mit dem in China lebenden Geisteswissenschaftler Martin Barkhoff einen Briefwechsel, der 2021 unter dem Titel Volkstod und Volksauferstehung. Achtundzwanzig Briefe zwischen Wien und Peking erschienen ist. Darin findet sich im Grundton fragender und freundschaftlicher Briefe vieles, das die Frage nach der Zukunft des deutschen Genius berührt. Ritter, Tod und Teufel dürfte noch für lange Zeit ein emblematisches Bild dafür sein.