Thomas Walch: “Verlorene Heimat – Südtirol” (1920)

Als ganz Tirol in Trauer war

100 Jahre Annexion Südtirols durch Italien

Am 10. Oktober 1920 erlangte Kärnten seine Freiheit, das Land Tirol trägt seitdem Trauer. An jenem Sonntag trat die Annexion des südlichen Tiroler Landesteils durch das damalige Königreich Italien offiziell in Kraft. Die Einwohner des Landes zwischen dem Brennerpaß und der Salurner Klause, das seit November 1918 durch italienische Truppen besetzt war, hofften ausgerechnet auf die alliierten Sieger, die in den Pariser Vororten tagten und die Absicht hatten, Europa radikal zu verändern.

Ein Beitrag von Georg Ladurner

Man vertraute auch auf die USA und Präsident Wilson, die gefährdete Landeseinheit zu erhalten. Zum Auftakt der Verhandlungen richtete der französische Staatspräsident Poincaré einen Appell an die Teilnehmer: „Ihr haltet die Zukunft der Welt in euren Händen!“ Doch die Konferenz gab der Welt das Gegenteil einer neuen Ordnung, sondern die Voraussetzung für ein weitaus schlimmeres Unglück, in das Europa zwei Jahrzehnte später schlittern sollte. Das Friedensdiktat von St. Germain besiegelte den Untergang der Habsburgermonarchie und bescherte Tirol die Teilung. Am 6. September 1919 nahm die österreichische Nationalversammlung mit 97 zu 23 Stimmen den Frieden an, vier Tage später besiegelte ihn Staatskanzler Karl Renner mit seiner Unterschrift.

Autonomie für Südtirol?

In der Folge gab es seitens Italiens hinsichtlich der Gewährung einer Autonomie für Südtirol eine Reihe von konfus-widersprüchlichen, aber auch von ehrlichen Ansichten durch Spitzenpolitiker wie Tittoni, Giolitti, Colonna, Bonomi bis hin zu König Vittorio Emanuele III. Am 27. 9. 1919 erklärte der ehemalige Mini-sterpräsident Luzzatti in einer Parlamentssitzung: „Es muß eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit, unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen.“

Zudem stand die Ratifizierung des Friedensvertrages durch das römische Parlament aus. Südtiroler Bemühungen, die hoffnungsvollen Ausführungen in greifbare Schritte umzusetzen, schlugen fehl. So schwanden die Wünsche, eine Autonomie zu bekommen, begünstigt durch eine innenpolitische Unruhe und eine harte Haltung der Trentiner Abgeordneten, von denen Männer wie Conci und Degasperi, die als Welschtiroler bis 1918 noch dem Innsbrucker Landtag und dem Wiener Reichsrat angehört hatten, die Südtiroler verängstigten und beunruhigten. Degasperi schrieb im „Nuovo Trentino“ in einer Abhandlung unter dem Titel Addio Tirolo: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“

Sozialisten sind gegen Annexion

In Südtirol hofften einige, die Annexion Südtirols durch Italien könnte durch die fehlende Ratifizierung des Friedensvertrages durch das Hohe Haus in Rom abgewendet werden. Doch trotz Ablehnung der Sozialisten, die der Abstimmung fern blieben erreichten die Befürworter ein Quorum von 170 Stimmen, womit die Ratifizierung mit nur 218 Abstimmenden im zu diesem Moment 508 Sitze zählenden Abgeordnetenhaus ein Fakt war.

Die Medien beschrieben die Annexion Südtirols je nach Ansicht und Einstellung unterschiedlich. „Der Tiroler“ schrieb am 29. 9. 1920 „Man hat Tirol das Schönste genommen, was es besessen hat – die Einheit“, die „Münchner Zeitung“ schrieb: „Wenn je ein Stück Papier auch nach dem Beschreiben ein Stück Papier geblieben ist, so ist es dieses Dekret“, und die „Neue Zürcher Zeitung“ stellte fest: „Tirol ist sehr, sehr unglücklich geworden“. Die Trentiner „Libertà“ triumphierte in einer aus diesem Anlaß aufgelegten „Jubelnummer“. Am 10. 10. 1920 trat das Dekret Nr. 1322 vom 26. 9. 1920 in Kraft. Von Bedeutung erwiesen sich dabei die Artikel 3 und 4, die den neuen territorialen Zuwachs als integrierte Bestandteile des Königreiches Italien erklärten und die Regierung dazu ermächtigten, in den neuen Provinzen die italienische Verfassung und alle anderen Gesetze des Königreiches kundzutun sowie alle erforderlichen Verfügungen zu erlassen, „um sie mit der in diesen Gebieten in Kraft stehenden Gesetzgebung und insbesondere mit ihren provinzialen und Gemeindeautonomien in Einklang zu bringen“.

10.10. 1920: Tirol trägt Trauer

Ganz Tirol beging den 10. Oktober 1920 als einen nationalen Trauertag. Zwischen dem Arlberg und der Kärntner Pforte und zwischen Kufstein und Salurn fanden als Zeichen der Trauer Gedächtnisgottesdienste statt. Bozen unterstrich diese Trauer besonders dadurch, daß die Bozner „fast alle in Schwarz gekleidet“ waren. Vor dem dramatischen Hintergrund des Tages stellte „Der Tiroler“ die angsterfüllte Frage: „Was soll aus uns werden, wessen sollen wir uns trösten, wer hilft, wer rettet uns?“ Der Deutsche Verband vermochte in einem Aufruf nicht mehr auszurichten als darauf zu hoffen, daß einmal der Tag kommen werde, „an welchem uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale Befreiung bringen“ werde. Auf diesen Tag wartet Südtirol nun schon seit exakt einem Jahrhundert!

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