Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Postkarte 294 des Deutschen Schulvereins

Wollen wir alle tatsächlich Kinder sein?

Zeit, wieder zur Normalität zurückzufinden!

Die Zeitgenossen, so lesen wir im Feuilleton verschiedener Medien, würden zunehmend infantiler. Die Zeichen dafür häufen sich, scheinen aber auf den ersten Blick harmlos zu sein. Bei genauerem Hinsehen sind sie einigermaßen alarmierend. Sie markieren eine gesellschaftliche Tendenz hin zu einem Verhalten, das man früher als kindisch bezeichnet hätte, das heute aber, weil es so verbreitet ist, kaum noch als solches auffällt: Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, Indiskretion; ein gewisser Zeigestolz; der Hang, seinen Spiel- und Zerstreuungsbedürfnissen zu fast jeder Zeit und ohne Rücksicht auf die Umgebung nachzugehen.

Ein Beitrag von Erich Körner-Lakatos

Derart kluge Befunde verweisen oft auf Neil Postmans bekannte These vom Verschwinden der Kindheit. Durch das gemeinsame Fernschauen sei, so Postman, die seit jeher getrennte Sphäre zwischen Kind und Erwachsenem aufgehoben worden. Über die so gut wie nichts mehr aussparenden Fernsehprogramme seien die Generationen miteinander verbunden, es verschwände folglich der Bereich des Unwissens und der Unschuld, des Kindlichen eben. Der Nachwuchs werde also durch Wissen, das an sich den Erwachsenen vorbehalten sein sollte, frühreif und nervig altklug. Kindheit war nichts Spezifisches, nichts genuin Unschuldiges mehr; deswegen verschwand sie laut Postman.

Heute, stehen wir vor einem anderen Befund: Wir alle werden zu Kindern. Die Sphäre der Erwachsenen, die von Vernunft, Selbstbeherrschung, Diskretion und allgemein von situativer Rücksicht gekennzeichnet ist, schwindet wie die Polkappen. Und diese Infantilisierung ist allerorten greifbar. So beim Retro-Kult: Mit neuen Waren in altmodischer Anmutung reproduziert die Babyboomer-Generation zumindest unterbewußt ihre eigene Kindheit. Die Werbefritzen wenden sich mit Dingen, die früher nur etwas für Kinder waren, nun ausdrücklich an Männer zwischen 30 und 45. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln behandelt man erwachsene Fahrgäste wie Wesen mit der intellektuellen Kapazität von Kleinkindern. Etwa durch die wiederholte Durchsage, man möge doch bitt’schön beim Aussteigen den Niveau-Unterschied zwischen Wagen und Bahnsteig beachten. No na.

Ein anderes Beispiel ist die Werbung im Vorabendprogramm. Diese Reklame – sei es von Möbelhäusern oder Schokoladeherstellern – richtet sich in Stil und Aufmachung an Kinder sowie an Erwachsene. Wobei man bei den Letzteren eine gewisse Schwäche des Verstands voraussetzt. Weil bloß geistig Minderbemittelte können sich durch derartige Kasperliaden ernsthaft zum Kauf der dargebotenen Produkte entschließen. Jedem durchschnittlich begabten Erwachsenen drängt sich der Gedanke auf: Also, wenn mich ein Unternehmen für derart unterbelichtet hält, dann kaufe ich dort bestimmt nichts. Dazu kommt, daß sich die enormen Kosten für die pausenlose Reklame zu bester Sendezeit auf die angeblich so günstigen Preise niederschlagen. Einer, der kauft, wird doppelt übervorteilt – er muß vorher die nervigen Werbeeinschaltungen über sich ergehen lassen und darf dann auch noch die Kosten dafür tragen.

Neil Postman listet vor dreißig Jahren einige Aspekte des erwachsenen Verhaltens auf, darunter die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung. Nicht zuletzt die Fähigkeit, zwischen Albernheiten und wichtigen Dingen zu unterscheiden. Wenn wir nun jeweils das Gegenteil heranziehen, dann ergibt sich dadurch das perfekte Profil für das heutige infantile Gehabe.

Denn in unseren Tagen ist Infantilität unter Erwachsenen gleichsam zur Norm geworden. So etwas wie eine erwachsene, bürgerliche Reserve gegenüber den nur für junge Menschen bestimmten Konsumgütern gibt es nicht mehr. Ein solcher Vorbehalt, der auch etwas mit altersspezifischer Würde zu tun hat, ist weitestgehend verschwunden. Äußeres Zeichen dafür sind die gewiß praktischen blauen US-Baumwollhosen, in denen fast alle Halbwüchsigen herumlaufen. Doch selbst Bewohner von Altersheimen können sich nicht von solchen Blue Jeans trennen, sie vermitteln ihnen offenbar einen Hauch von Jugend.

Tatort Gehsteig. Mit gutem Grund hat der seinerzeitige Gesetzgeber verordnet, das Trottoir sei für den Fußgänger reserviert sowie für Kinder mit Spielzeug wie Dreiradler oder Plastikautos. Nunmehr bevölkern immer mehr „Erwachsene“ mit ihren metallenen Tretrollern den Gehsteig. Das ist eben einer der Nachteile der offenen Psychiatrie. Gerüchten zufolge erschien eines Tages ein junger Rechtsanwalt in Anzug samt Selbstbinder im Verhandlungssaal des Gerichts. Mit sich führte er einen Tretroller, den er in den Zuschauerreihen parkte. Da der Rollerfahrer als Sachwalter für einen geistig Behinderten einschritt, war der Herr Rat etwas verunsichert, ob er nicht etwa doch den Besachwalteten höchstselbst vor sich habe. Nein, nein, es war schon der Advokat. Worauf der alte Richter laut dachte: Ob man den Herrn Sachwalter ebenfalls unter Kuratel stellen sollte?

Traurig stimmen Erlebnisse, wie dieses: In den öffentlichen Verkehrsmitteln nimmt niemand mehr seinen Sitznachbarn wahr, jeder ist mit seinem kleinen Gerät beschäftigt. Das mag bei Jugendlichen angehen. Aber Erwachsene? Leider verbreitet sich die Sucht auf immer ältere Jahrgänge, was doch etwas komisch anmutet, denn seit der Antike gilt der Grundsatz des Alterns in Würde. So prägte beispielsweise Cicero den Begriff des otium cum Dignitäre, der mit wissenschaftlicher und philosophischer Betätigung verbrachten würdevollen Muße in Zurückgezogenheit (De Oratore I, 1f). Doch was sehen wir jetzt? Der Philosoph Peter Kampits spricht es ungeniert aus:

„Der Jugendwahn, der die Chancen einer verlängerten Lebenszeit in die falsche Richtung drängt, hat die Alten dazu verleitet, so zu tun, als ob sie jung wären. Dieser Infantilisierungsdruck, der die furchtbarsten Blüten treibt – die extrem gefärbten Haare alternder Amerikanerinnen, 90jährige Marathonläufer, die Idolisierung des Seniorensports sind nur einige Beispiele dafür, was Günther Nenning seinerzeit auf den Punkt gebracht hat: Auf der Suche nach dem Sinn haben wir den Unsinn erfunden. Die Alten äffen die Jungen nach, die Alten hatschen dem Zeitgeist hinterdrein. Das Alter verliert die Würde und gewinnt an Lächerlichkeit. Sex, Sport und Spaß sind die Dreifaltigkeit der Moderne. Die Menschen werden immer älter und immer blöder …

Das Erwachsensein pervertiert zur Kindheit mit Bankomatkarte samt dem neuesten digitalen Werkl, einem Hirnschrittmacher, mit dem man schier alles anstellen kann. Jedem von uns treibt die Wucht an banalem Gefasel, das man sich allerorten anhören muß, zum Wahnsinn. Gleichzeitig werden Pünktlich- und ganz allgemein Verläßlichkeit immer unwichtiger – man kann ja laufend am Smartphone durchgeben, um wieviel Minuten man nun zuspätkommt.

Selbst konservative Menschen, die bei Tische am Mobiltelefon angerufen werden, halten es oft nicht mehr für nötig, sich für die Dauer des Gesprächs zurückzuziehen, jeder soll ruhig alles mithören. Daß Spielzeug beim Essen nichts verloren, daß jede Verrichtung ihre Zeit und ihren Ort hat, scheint nicht mehr zu gelten. Es gibt keine, im Wortsinne, diskreten Lebensbereiche mehr.

Selten erheischen wir den wohltuenden Anblick von Menschen, die einfach gar nichts tun, die aus dem Fenster sehen und die Welt auf sich wirken lassen. Man mache eine Probe und sehe sich an einem beliebigen Bahnsteig um, an dem viele Menschen warten, oder im Zug selbst und vergleiche diese Situation mit der von vor fünfundzwanzig Jahren: Die ununterbrochene digitale Kommunikation mit Abwesenden lässt die Menschen wie Autisten, ja, fast schon wie Geisteskranke aussehen.

Immer mehr Mittzwanziger verlängern ihre Jugend bis hart an den Vorruhestand. Der Mensch von heute will, gleich Peter Pan, nicht erwachsen werden. Ich will gar nicht groß werden, ich will immer ein kleiner Junge sein und meinen Spaß haben. Heute gibt es nicht einen, heute gibt es viele Peter Pans. In der kindlichen Gesellschaft – im Grunde genommen handelt es sich um eine Tyrannei der sabbernden Infantilität – wird jeder Aufschub von Glücksmomenten als persönliche Kränkung aufgefaßt, jedes objektive Hindernis im Alltag erscheint als Sabotage an der Selbstverwirklichung. Motto: Ich will alles, und das sofort! Da erhebt sich unter der vernünftig gebliebenen Rest-Population der heutigen Menschheit die bange Frage: Ist der morbus infantilitatis überhaupt noch einzudämmen? Nun, wir wollen es hoffen.

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