Ein Reisetagebuch (2/2)
von Erik Lehnert
(Erster Teil)
Meine Vorfahren väterlicherseits stammen aus Ostpreußen. Die Erinnerung an die Heimat blieb in der Familie lebendig, sodaß Ostpreußen für mich immer ein Sehnsuchtsort gewesen ist. Bereits in den 1990er-Jahren unternahm ich einige Reisen dorthin. Der Anstoß zur hier dokumentierten Reise kam von einem Freund, den auch ohne entsprechenden familiären Hintergrund ähnliche Gefühle mit Ostpreußen verbinden. Ostpreußen ist nicht ohne Grund unvergessen und zu einem deutschen Mythos geworden. Unsere Eindrücke und Erlebnisse ließen wir jeden Abend bis tief in die Nacht hinein Revue passieren. Die Niederschrift des Tagebuches mußte also jeweils bis zum darauffolgenden Morgen warten. EL
25. Mai 2022 – Im wieder aufgebauten Dohna-Schlößchen in Mohrungen wird eine Ausstellung zu Herder gezeigt, der hier geboren wurde und, für einen Deutschen eher ungewöhnlich, verehrt wird. Im Rahmen seiner volkskundlichen Sammlungen hatte er auch die Slawen berücksichtigt. Die Ausstellungstexte sind ins Deutsche übersetzt und in einem lustigen DDR-Jargon gehalten. In der heimatkundlichen Ausstellung zahlreiche Gemälde und Möbelstücke, die aus den großen Schlössern des ostpreußischen Adels stammen. Sie sind vermutlich nicht als Schenkung hier gelandet. Aber immerhin: In Mohrungen sind die historischen Wegweiser sogar auf Deutsch beschriftet. Und vor dem Rathaus stehen noch die Kanonen aus dem 1870er-Krieg, die dort 1914 aufgestellt worden waren.
Weiter geht es nach Heilsberg und Rössel, zwei wichtigen Burgen, die heute Museen und Restaurants beherbergen. Essen kann man in Polen mittlerweile sehr gut, die Ausstellungen sind oftmals entweder für ein rein polnisches Publikum bestimmt oder von so unterirdischer Qualität, daß man sich die Zeit dafür sparen kann. In der Burg Rössel, in die 1823 eine klassizistische Kirche integriert wurde, gibt es ein Foltermuseum mit bizarren Exponaten, von denen nur die wenigsten echt sein dürften. Immerhin hat Rössel ausnahmsweise eine Altstadt vorzuweisen, die vom Bergfried der Burg zudem gut zu überblicken ist. Die meisten Altstädte Ostpreußens wurden zerstört, allerdings nicht durch Kriegseinwirkungen, sondern durch die Siegesfeiern der Russen. So auch die von Heilsberg, die einmal als die schönste Altstadt des ganzen Landes gegolten hat. Davon sind nur die Bischofsburg und das Hohe Tor erhalten.
26. Mai – In Sensburg kann ich endlich meiner Leidenschaft frönen, den Bismarcktürmen und -warten, von
denen in Ostpreußen einige den Krieg überstanden haben. Der Sensburger Bismarckturm ist leicht zu finden, gut erhalten und vor allem geöffnet, was bei seinen Gegenstücken in Deutschland oftmals nicht der Fall ist. Im Rathaus eine Ausstellung zur Stadtgeschichte, darin einiges über den Pfarrer und Verfasser eines deutsch-polnischen Wörterbuchs, Christoph Cölestin Mrongovius, der bei Kant studiert hatte und nach dem die Polen die Stadt nach 1945 Mrągowo nannten. Besonders diese Ortsnamen, die keine Übersetzung der alten deutschen sind, machen einem die Orientierung manchmal schwer. Vor dem Rathaus ein Hinweisschild auf zwei Eichen: die Friedenseiche von 1871 und die Abstimmungseiche von 1920. Denn Sensburg gehörte zum Abstimmungsgebiet Allenstein, in dem die Bevölkerung gemäß des Versailler Diktats über seine Zugehörigkeit zum Deutschen Reich abstimmen mußte. Obwohl in diesem Gebiet nur gut die Hälfte deutschsprachig war, stimmten fast 98 Prozent für den Verbleib bei Deutschland, in Sensburg selbst waren es 99,9 Prozent.
Das etwa 15 Kilometer südlich von Sensburg gelegene Forsthaus Kleinort, in dem der Dichter Ernst Wiechert 1887 geboren worden war, steuern wir als nächstes an. Leider ist es wegen Corona geschlossen, was uns auf der ganzen Reise noch kein einziges Mal untergekommen war. Corona spielt bei den Polen sonst keine Rolle. Da sich in dem Haus keine originalen Gegenstände befinden, war es zu verschmerzen, immerhin ist der Hof zugänglich, in dem wir ohne Touristenmassen verweilen können. Weiter nach Lötzen, heute Giżycko, wiederum nach einem sprachforschenden Pastor, Gustav Gisevius, genannt, um dort die Feste Boyen zu besichtigen. Sie trägt ihren Namen nach dem preußischen Kriegsminister, der den König Mitte des 19. Jahrhunderts davon überzeugte, an dieser Stelle eine Ringfestung zum Schutz der Ostgrenze zu errichten. Auch wenn diese 1914 völlig veraltet war, konnten sie die Russen nicht einnehmen. Der Soldatenfriedhof vor der Festung, mit deutschen und russischen Gefallenen, zeigt uns, daß wir uns auf dem Gebiet befinden, auf dem im Februar 1915 die Winterschlacht in Masuren tobte. Friedhöfe begegnen uns auch auf dem weiteren Weg Richtung Osten, u.a. in Arys, wo ein im reinsten Jugendstil gehaltenes Denkmal an die Russen erinnert, obwohl diese die Stadt zweimal besetzten, plünderten und brandschatzten. Ziel unserer heutigen Tour ist der zentrale deutsche Soldatenfriedhof in Bartossen, der in der jetzigen Form 2003 eingeweiht wurde und mittlerweile 20.000 Bestattungen aufweist. Allerdings gibt es einen Vorläuferfriedhof, der hier 1915 angelegt wurde und heute in die neue Anlage integriert ist. Damals errichtete man für 84 gefallene Soldaten ein Denkmal, das durch drei Kreuze weithin sichtbar war, weshalb es das „Golgatha von Ostpreußen“ genannt wurde.
27. Mai – Heute Nachmittag muß das Auto abgegeben werden, daher nur ein kurzer Ausflug Richtung Südosten, nach Ortelsburg, der ersten Stadt unserer Reise, die einen überfüllten, verstopften Eindruck macht. Wie viele dieser Städte wurde sie 1914 von den Russen zerstört, noch während des Krieges wieder aufgebaut – was Wolfgang Koeppen in seinem Roman Die Mauer schwankt schildert –, um dann 1945 nochmals zur Hälfte zerstört zu werden. Das Rathaus von 1938, das an eine Burgruine anschließt und ganz im Stil der Kasernenbauten der 1930er-Jahre gehalten ist, hat den Krieg überstanden. Selbst Details wie Fenstergitter und Sgraffiti sind erhalten. Im Seitenflügel gibt es ein Museum, das die Sammlungen des alten, deutschen Heimatmuseums präsentiert und einen halbwegs professionellen Eindruck macht. Eine Sonderausstellung zu den – ausschließlich deutschen – Brauereien der Region erfreut unser Gemüt. Die Rückfahrt nach Allenstein führt am Bahnhof vorbei, der ebenfalls noch aus deutscher Zeit stammt, hervorragend restauriert ist und am Giebel sogar noch den alten Namen der Stadt zeigt.
Zurück in Allenstein, ein Besuch der Burg, auf der Kopernikus für einige Jahre als Verwalter des Domkapitels tätig war. An der Wand des Burgkreuzgangs ist heute eine astronomische Tafel zu sehen, die Kopernikus dort eigenhändig gemalt haben soll. Überhaupt wird hier ein großer Kult um Kopernikus betrieben, den die Polen als ihren Landsmann betrachten. Unterhalb der Burg befindet sich eine Kopernikusbüste, die Johannes Götz 1914 geschaffen hat. Sie steht auf ihrem alten Sockel, nur die deutschsprachige Tafel fehlt. Ein letzter Spaziergang durch die Altstadt von Allenstein bzw. was von ihr noch übrig ist. Das ist nicht besonders viel. Auch hier brannte die Stadt nach dem Krieg ab. Beim Wiederaufbau hielt man sich aber an die alten Maße, sodaß der Eindruck einer Altstadt entstanden ist. Daß man sich zwischen Häusern aus den 1960er-Jahren bewegt, merkt man vor allem an den ostblockmäßigen Hausverzierungen. Am Rande der Altstadt steht das Rathaus, das allabendlich in den Farben der Ukraine angestrahlt wird. Unweit davon ein sowjetisches Denkmal, das mit einer großen polnischen Fahne eingehaust ist, auf der nur „Katyn“ steht. Links davon befindet sich ein großes Gebäude, das unser kunstgeschichtlicher Reiseführer nicht aufführt. Es handelt sich um das 1911 errichtete Verwaltungsgebäude des Regierungsbezirks Allenstein. Es ist hervorragend erhalten. Über dem Haupteingang prangt der preußische Adler mit dem Wahlspruch des Soldatenkönigs: Nec soli cedit – Er weicht selbst der Sonne nicht.
Fazit: Zwei Gewißheiten sind es, die wir von unserer Reise nach Ermland und Masuren mitgenommen haben. Zum einen werden die deutschen Spuren mit jedem Jahr weniger. Die deutschsprachigen Touristeninformationen haben sich vermehrt, aber die sprachlichen Überbleibsel aus der Zeit vor 1945 schwinden. Mittlerweile sind sogar die meisten gußeisernen Kanaldeckel, in den 1990er-Jahren durch die Herstellerprägung noch untrügliches Zeichen der deutschen Städtebauer, ausgetauscht worden. Zum anderen bleibt doch das Gefühl, gerade hier in den Ostgebieten dem eigentlichen Deutschtum näher zu kommen. Woran das liegt? Der deutsche Osten ist mittlerweile ein Sehnsuchtsland, ein Mythos geworden, der sich dem, der hinter die Fassade schauen kann, als nie versiegender Kraftquell offenbart. Was „Schicksalsgemeinschaft“ heißt, zeigt sich für Deutsche im Osten.