Wikimedia Commons, Walter Geikie

Über den Säuferwahnsinn

von Erich Körner-Lakatos

Da bereits in alten Zeiten auf der Bude hin und wieder gehörig über den Durst getrunken wurde, beschäftigten sich im 19. Jhd. verhältnismäßig viele Medizinstudenten mit dem Säuferwahnsinn. Gottlob nicht in praxi, sondern im Rahmen ihrer Dissertation. Quasi als vorbeugende Maßnahme, sollte man irgendwann selbst davon betroffen sein – als Folge einer chronischen Überfunktion der Gurgel. Die damals auch für Mediziner obligatorische Doktorarbeit war in lateinischer Sprache abgefaßt und trägt gehäuft die Überschrift De delirio tremente, auf Deutsch: „Über den Säuferwahn(sinn)“.

Vorauszuschicken ist, daß ein Mensch, der zunehmend dem Alkohol verfällt, mehrere Stadien durchläuft. Im ersten Stadium, der voralkoholischen Phase, berauscht sich der Trinker kaum, möchte noch dem Kontrollverlust vorbeugen, hebt deswegen nur solange den Becher, bis eine gewisse Euphorie eintritt. Da sich der Körper selbst gegen das noch relativ niedrige Alkoholquantum wehrt, ist eine allmähliche Steigerung vonnöten – meist hastig und in aller Heimlichkeit –, wobei in dieser nächsten Phase die höhere Quantität in eine andere, bis heute nicht erklärbare Qualität umschlägt – der Trinker verliert die Kontrolle über den Alkoholkonsum: Er kann nicht mehr aufhören, fängt schon in der Früh damit an. In der letzten chronischen Phase säuft er wie besessen, ergeht sich abwechselnd in Selbstmitleid und in grundloser Euphorie. Bereits seit altersher kennt man in Wien den Ausspruch so manch verlotterten Säufers: „Heut’ kauf ich mir an Rausch“.

Mögliche Folge ist das Delirium tremens, ein mitunter lebensgefährlicher Zustand, der sich bei chronischem Alkoholmißbrauch einstellt. Es kommt dabei entscheidend auf die Konstitution des Säufers an. Der eine hält über Jahrzehnte hindurch große Mengen Alkohol aus, der andere geht bereits bei weit geringeren Quanten zu Boden. Wobei der Spiegeltrinker oder Delta-Typ wegen der ständigen Belastung des Organismus’ gefährdeter ist als ein Quartalssäufer oder Epsilon-Trinker, dessen Körper sich in den Zeiten der Enthaltsamkeit erholen kann.

Das Eigenartige, um nicht zu sagen: Paradoxe am Delirium tremens ist, daß es selten durch einen Vollrausch ausgelöst wird – sondern im Gegenteil durch den abrupten Entzug von Alkohol, mit anderen Worten: bei Unterbrechung der gewohnten Zufuhr geistiger Getränke. Oft geht dem Säuferwahnsinn im engeren Sinne ein meist verkannter epileptischer Anfall voraus, ein sogenanntes Prädelirium. Deswegen ist es minder ratsam, ohne ärztliche Aufsicht schlagartig mit dem Trinken aufzuhören, wie es einem die nunmehr auch bei uns in Mode gekommene Idee vom „Dry January“ (dt. trockener Jänner) nach den feiertäglichen Alkoholorgien nahelegt. Von Vorteil ist eine Abstandnahme peu à peu, auch wenn dies zu leichten Symptomen führt, wie dem Zittern der Hände, in der Sprache der Mediziner: Tremor.

Die Weißkittel rechnen ein alkoholbedingtes Delirium zur Gruppe der organischen Psychosyndrome. Als charakteristisch dafür gelten Störungen von Bewußtsein, Denken und Gefühl. Die Gefahr, infolge eines unbehandelten Deliriums das Zeitliche zu segnen, liegt bei satten 25 %. Symptome des Säuferwahns – ausgelöst durch ein Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe im Zentralnervensystem – sind Angst, Verwirrtheit – die Krankenschwester wird für eine Kellnerin gehalten, die den nächsten Schnaps bringt –, optische Halluzinationen – bekannt sind die weißen Mäuse –, starkes Schwitzen, krampfartige Zustände, aber auch die aggressive Abwehr pflegerischer Fürsorge.

Und die Behandlung? Noch ein Glück hat derjenige, der in einer Intensivstation liegt, da nur so die Überwachung der Vitalparameter Puls, Körpertemperatur, Blutdruck, Atemfrequenz, Flüssigkeits-, Mineral- und Energiehaushalt gewährleistet ist. Medikamentös werden Mittel zur Beruhigung und zur Angst- und Krampflösung verabreicht, die Ärzte sprechen von Benzodiazepinen. Freilich dürfen Beruhigungsmittel nicht zu hoch dosiert werden, da sonst die Atmung beeinträchtigt wird. Die Ärzte geben jedem, der sich in delirio tremente befunden hat, die durchaus plausible Empfehlung, fürderhin bei geistigen Getränken maßzuhalten. Wer den wohlmeinenden Rat in den Wind schlägt, den holt beizeiten der Qui-Qui.

Über den Grund, weswegen manche Menschen ein Übermaß an geistigen Getränken zu sich nehmen, zerbrechen sich Forscher seit langer Zeit den Kopf: Ist es eine Sache der Vererbung – oder eines bestimmten medizinischen Eingriffs? Im Verdacht steht eine in der Gegenwart nur mehr selten durchgeführte Magenresektion namens „Billroth II“, kurz BII, um ein Magen-Darm-Geschwür zu beseitigen; unter Ärzten ging und geht vereinzelt auch heutzutage noch der Spruch um: „BII-Operierte saufen“. Oder überwiegen Umwelteinflüsse? Vieles spricht für eine genetische Prädisposition in Verbindung mit dem familiären Umfeld: Wenn sich der Herr Vater am kühlen Blonden delektiert, dann orientiert sich der Sohn am Beispiel des Altvorderen.

Eine weitere Theorie geht davon aus, daß gesellschaftliche Außenseiter wegen ihres Aussehens, Gewichts, ihrer Körpergröße oder wegen verminderter intellektueller Fähigkeiten oft dem Hohn und Spott ihrer Mitmenschen ausgesetzt sind. Wir wissen ja seit Thomas Hobbes: homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Solchermaßen gehänselt, wird exzessiv zur Flasche gegriffen, um sich auf diese Weise vorübergehend zu betäuben.

Dummheit frißt, Intelligenz säuft. An jenem alten Spruch dürfte etwas Wahres dran sein, da ein hoher IQ sich mitunter als Fluch erweist. Einerseits führt er zu Einsamkeit, da der Hochintelligente ganz spezielle Interessen hat, die von nur wenigen Mitmenschen geteilt werden. Die dadurch entstehende Isolation schlägt sich im vermehrten Genuß von Bier oder Wein nieder. Da hat es der durchschnittlich Begabte besser. Denn er findet leicht Anschluß, wenn er Kartenspielen will bzw. sich über Fußball, Skifahren oder Autotypen unterhalten möchte. Andererseits verzweifeln Hochbegabte oft an ihrer Umgebung und beginnen in der Folge zu trinken. Denken wir an Joseph Roth; oder an den bis heute namentlich unbekannten Zeitgenossen, der in den 1920er-Jahren unablässig säuft. Als man ihn im Wiener Café Herrenhof nach dem Grund dafür fragt, meint er – und die Quelle ist niemand Geringerer als Karl Kraus: „Schaun’S, mein Tschechern ist eine Art Notwehr. Mein Lebtag lang bin ich von Idioten umgeben. Hierzulande ist Hochgeistiges nicht einmal in Gelehrtenstuben vorzufinden. Da muß sich der Wissensdurstige schon eher zum Branntweiner bemühen.“

Beitrag teilen

Facebook
Twitter
Email
Telegram
Print