von Reinhard Olt
Neue, eindeutige Nachweise für die Unschuld von Südtiroler Freiheitskämpfern an aufsehenerregenden Vorfällen während der Bombenjahre.
Es gehört zu den wissenschaftlichen Sternstunden, wenn sich ergibt, daß die historische Forschung hervorbringt, was ihre ureigene Aufgabe und Zweckbestimmung sein sollte: nämlich neue Einblicke auf Handlungen und Einsichten in Geschehnisse zu eröffnen, für die bis dato gemeinhin galt, es seien alle Tatbestände und Zusammenhänge bereits klar zutage getreten gewesen und in der Geschichtsschreibung gleichsam amtlich oder unverrückbar dargestellt worden. Nicht selten spielt dabei die Entdeckung und akribische Analyse bisher unbekannter oder unbeachteter, wenn nicht gar ignorierter Archivalien die entscheidende Rolle.
Der (Militär-)Historiker Hubert Speckner stieß im Österreichischen Staatsarchiv auf äußerst brisante Verschlußakten.
Als er diese erschloß, erschien insbesondere ein von italienischer Seite als blutigstes Attentat Südtiroler Widerstandskämpfer der 1960er-Jahre gebrandmarkter Vorfall, den Rom als Hebel benutzte, um Wiens EWG-Assoziation zu unterlaufen, in einem gänzlich anderen Licht. Denn Speckner erkannte alsbald, daß die sogleich auch von der österreichischen Regierung als zutreffend erachteten Beschuldigungen der italienischen Seite gegen die der Tat bezichtigten und in Österreich in Haft genommenen Personen, Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon Kufner, äußerst zweifelhaft waren. Die Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) sollen den Mast einer Überlandleitung gesprengt und eine Sprengstoffvorrichtung im unmittelbar benachbarten Gelände angebracht haben, bei deren Detonation drei italienische Militärangehörige getötet und einer schwer verletzt worden seien.
Die BAS-Leute waren später in einem Prozeß in Florenz in Abwesenheit zu hohen (Kufner) bis lebenslangen Haftstrafen (Hartung, Kienesberger) verurteilt, in Österreich hingegen „in dubio pro reo“ freigesprochen worden. Speckner konnte in seiner umfangreichen Studie Zwischen Porze und Roßkarspitz. Der „Vorfall“ vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten (Wien 2013) aufgrund zahlreicher Aktenstücke den Nachweis führen, daß sich besagtes Geschehen an der Porzescharte keinesfalls so abgespielt haben konnte, wie es italienischerseits dargestellt wurde und später in historisch-politischen Publikationen seinen Niederschlag fand. Es gab und gibt begründete Verdachtsmomente, daß die italienischen Militärangehörigen dort überhaupt nicht zu Tode gekommen sein dürften. Es zeigten sich überdies gewichtige Indizien, die dafür sprechen, daß die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fingierte Aktion des italienischen Militärgeheimdienstes SIFAR/SID/SISMI und des damit verquickten „Gladio“-Arms der geheimen „Stay behind“-Organisation der Nato gewesen sein dürfte.
In Zwischen „Feuernacht“ und „Porzescharte“. Das „Südtirol-Problem“ der 1960er-Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, seiner aufsehenerregenden und umfangreichen Studie von 2016, untersuchte Speckner mehr als 50 Fälle, welche sich zwischen Dezember 1955 und März 1970 zutrugen. Seine darin luzide aufbereitete und minutiös ausgebreitete Aufarbeitung der Geschehnisse machte deutlich, wie weit und gravierend die offizielle Darstellung von der Aktenlage des im Staatsarchiv aufgefundenen sicherheitsdienstlichen Bestandes abwich.
Zudem ergänzte Speckner seine Befunde aus den Primärquellen der österreichischen Staatspolizei (StaPo) durch die in zahlreichen Gesprächen mit den Freiheitskämpfern des BAS gewonnenen Aussagen, was historiographisch im Rahmen der „oral history“ seine methodische Rechtfertigung findet.
Expertise von Fachleuten in neuem Buch
Und schließlich stellte Speckner im Zusammenwirken mit fundierten Expertisen amtlich anerkannter Fachleute in seinem soeben im Verlag effekt! aus Neumarkt a.d. Etsch erschienenen Buch Pfitscherjoch, Steinalm, Porzescharte – Die drei „merkwürdigen Vorfälle“ des Höhepunktes der Südtiroler Bombenjahre 1966 und 1967 auf rationale Weise jene echoreichsten, blutigsten Fälle vom Kopf auf die Füße und führte damit deren amtliche italienische Darstellungen ad absurdum.
Pfitscherjoch
So im Falle des todbringenden Ereignisses am Pfitscherjoch vom 23. Mai 1966. Dort war in einem von Guardia di Finanza, Carabinieri und Alpini-Soldaten genutzten Stützpunkt infolge einer Explosion ein Angehöriger der Guardia di Finanza ums Leben gekommen. Laut der „offiziellen“ italienischen Version des Geschehens habe dieser während des Patrouillengangs die Tür zum Schutzhaus geöffnet, worauf eine Sprengladung von ungefähr 50 kg explodiert sei. Wie bei ähnlich gelagerten Vorfällen in den 1960er-Jahren „wußten“ italienische Medien wie Politik, daß die gewaltige, das Gebäude nahezu völlig zerstörende Explosion von „Terroristi“ verursacht worden sei. Und alsbald wurden die vier „Pusterer Buben“ Siegfried Steger, Josef Forer, Heinrich Oberleiter und Heinrich Oberlechner von Italien als Urheber mehrerer Anschläge beschuldigt – darunter des nie bewiesenen und durch die spätere Aussage eines seiner Kameraden jemand anderem zugeschriebenen Mordes am Carabiniere Vittorio Tiralongo 1964 in Mühlwald bei Taufers.
Der Beurteilung mehrerer damaliger Sprengsachverständiger zufolge weist die Aufnahme des am Pfitscherjochhaus Getöteten ebenso wie die Fotos der zerstörten Holzhütte ursächlich auf eine Gasexplosion in der Hüttenküche hin. Auch das auf den offiziellen Tatortfotos der Guardia di Finanza zu erkennende eingesackte Dach der Hütte widerspreche mit aller Deutlichkeit der Verwendung von Sprengstoff, noch dazu in der erwähnten Menge von 50 kg: Diesfalls wäre das Dach, anstatt in sich zusammenzusacken vielmehr in Trümmern in die Luft geflogen. Speckner kam aus den von ihm entdeckten und erstmals ausgewerteten Archivalien zum Ergebnis, daß sich der Pfitscherjoch-Vorfall „also kaum so zugetragen haben konnte, wie von offizieller italienischer Seite dargestellt“. Sein Befund ist von unlängst vorgenommenen und auf modernen naturwissenschaftlich-sprengtechnischen Instrumentarien fußenden Untersuchungen durch Experten so erhärtet worden, daß diese der Wahrheit des Geschehens zweifelsfrei am nächsten kommen und somit als bewiesen gelten dürften. So allein schon durch die Fallbeurteilung des Spreng(mittel)experten Max Ruspeckhofer, der in Cold Case Pfitscherjoch – Wie ein Unfall zu einem Anschlag wurde kurz und bündig feststellte: „Wenn man alle diese Dinge in Betracht zieht, bleibt eigentlich nur mehr eine einzige Schlußfolgerung übrig: Es handelte sich bei diesem Ereignis nicht um ein Attentat, bei dem bewußt der Tod von Menschen in Kauf genommen wurde, sondern um einen tragischen Unfall.“
Eine letztvergewissernde Expertise durch den beeideten unabhängigen Sachverständigen Dr.-Ing. Harald Hasler untermauert nicht nur Ruspeckhofers Beurteilung, sondern stellt die amtliche italienische Darstellung gänzlich in Abrede. Sie wurde zudem durch Haslers ballistische Berechnungen in Bezug auf das Verhalten von Personen bei Explosionen auf Grundlage der international anerkannten Basisliteratur TNO Green Book komplettiert. Für ihn steht fest, daß „aufgrund der festgestellten technischen Tatsachen und Sachverhalte zweifelsfrei klar [ist], daß sich der aktenkundig beschriebene Vorfall am 23. Mai 1966 am Pfitscherjoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so NICHT ereignet haben kann. Alle Indizien sprechen eindeutig für eine Gasexplosion. Sachverhaltsdarstellungen, Fachbeurteilungen und entscheidende Schlußfolgerungen aus den vorliegenden Akten sind in keinster Weise nachvollziehbar, mangelhaft und unterliegen keinen fachlich fundierten und objektiv ermittelten gerichtsverwertbaren Erkenntnissen.“
„Causa Steinalm“
Analog dazu ergaben sich für Speckner wie für die beigezogenen Sachverständigen in der „Causa Steinalm“ ähnlich geartete Ergebnisse. Knapp fünf Monate nach dem Geschehen rund um das Pfitscherjoch-Haus waren zufolge einer Explosion in einem Stützpunkt der Guardia di Finanza auf der Steinalm nahe dem Brennerpaß zwei Finanzwachesoldaten ums Leben gekommen. Ein Schwerverletzter verstarb wenige Tage später. Bis heute werden in Italien politisch sowie justizamtlich drei BAS-Aktivisten, darunter der legendäre Freiheitskämpfer und Schützenmajor Georg „Jörg“ Klotz, des „blutrünstigen Anschlags“ bezichtigt – wenngleich Klotz nachweislich in Österreich im Exil war und auch die beiden anderen Beschuldigten hieb- und stichfeste Alibis hatten. Klotz’ Ehefrau Rosa, geborene Pöll, deren mutigem, aufopferungsreichen und entsagungsvollen Leben ihre Tochter Eva jüngst eine warmherzige Biographie widmete (Rosa Pöll – Die Frau des Freiheitskämpfers, effekt! 2022), war daraufhin verhaftet und für 14 Monate eingekerkert, ihre sechs Kinder waren Verwandten und Nachbarn überstellt worden.
Widersprüchliche Darstellungen
Wenngleich damals schon zahlreiche Gutachten, die von mehreren Sachverständigen zu dem Vorfall auf der Steinalm angefertigt worden waren, die Explosion einer Gasflasche oder die Detonation einer Kiste mit Handgranaten in deren unmittelbarer Nähe, als ursächlich für den Tod der Finanzer sowie die Zerstörung des Stützpunktes ansahen, blieb und bleibt Italien geradezu doktrinär bei seiner Hergangsversion und Schuldzuweisung. Es wies – wie stets bei derartigen Vorfällen – Wien eine „Mitschuld“ zu, da die österreichischen Behörden zu wenig gegen den Terrorismus in Italien unternehmen würden.
Daß diese offizielle römische Schuldzuschreibung zu verwerfen ist, zeigt eigentlich allein schon Speckners Durchleuchtung des damaligen Vorfalls. Zudem untermauert die wissenschaftlich begründete Begutachtung durch den Sachverständigen Hasler seine aktenmäßig erschlossenen historischen Ergebnisse. Hasler stellt nämlich aufgrund seiner umfangreichen Befundung, einer forensisch-kriminaltechnischen Analyse sowie der Bewertung der Sachverhalte fest, „daß sich der aktenkundig beschriebene Vorfall am 9. September 1966 auf der Steinalm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so NICHT ereignet haben konnte“ und verwirft die dem damaligen Gerichtsurteil zugrundeliegenden Ergebnisse italienischer Gutachter, indem er konstatiert, sie unterlägen „keinen fachlich fundierten und objektiv ermittelten gerichtsverwertbaren Schlußfolgerungen“.
Teil 2: https://dereckart.at/suedtiroler-bombenjahre-2-2/
Über den Autor:
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt (71), Bauernsohn; nach Abitur und Wehrdienst Studium in Mainz, Gießen und Freiburg. Assistent Universität Gießen; danach 27 Jahre FAZ-Redakteur, davon 18 Jahre Korrespondent in Wien. Daneben von 1980 bis 2017 Lehraufträge an bundesdeutschen und österreichischen Hochschulen sowie Gastprofessuren in Budapest; mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen. Orden und Ehrenzeichen Südtirols, Tirols sowie der Steiermark; Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst; Komturkreuz des Ungarischen Verdienstordens.