von Friedrich Helbig
Ich sitze vor meinem Rechner und versuche, den Auftrag des ECKART-Schriftleiters umzusetzen. Er rief vor geraumer Zeit an und übertrug mir die Aufgabe, für die Ausgabe zu den deutschen Gewässern über Oder und Neiße zu schreiben. Aus gutem Grund: Er weiß schließlich, daß an der Wand vor mir an meinem Arbeitsplatz die große Schlesienlandkarte hängt. Dort schlängelt sich die Oder – die Lebensader Schlesiens – von Südost nach Nordwest durch das Land, ähnlich der Mittelrippe eines Blattes. In der Zeit vor der Nachkriegszäsur, aus der diese Landkarte stammt, floß die Oder einen Großteil ihrer 866 Kilometer Länge tatsächlich als deutscher Fluß durch deutsches Land. Sie entspringt zwar am Fiedelhübel im mährischen Odergebirge, doch bald danach erreicht sie Schlesien und endet schließlich in der Ostsee im Stettiner Haff. Heute ist sie laut Wikipedia ein mitteleuropäischer Strom und der fünftgrößte Fluß der BRD. Dabei fließt sie aktuell nicht mehr durch deutsches Staatsgebiet, sondern erst durch Polen, ehe sie zum Grenzfluß zwischen Polen und der BRD wird. Aus einem Hindurch wurde ein Nebendranvorbei. Die Neiße ihrerseits, genauer gesagt die Lausitzer Neiße, ist ein linker Nebenfluß der Oder. Sie mündet südlich von Eisenhüttenstadt nach 254 Kilometern Flußlauf bei Ratzdorf in die Oder, ihre große Schwester, deren Schicksal sie teilt: Sie fließt nicht mehr durch deutsche Lande, sondern grenzt stattdessen bundesdeutsches Staatsgebiet von Polen ab.
Als Kind hörte ich in der DDR im Unterricht, beide Flüsse würden gemeinsam die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ bilden.
Was das genau bedeuten sollte, verstand ich nicht. Ich war nur verwundert: Opa sah aus dem Küchenfenster der großelterlichen Wohnung in Görlitz nahe des Neißeufers, blickte wehmütig auf das vergrünte Kupferdach der Ruhmeshalle und erzählte, er habe dort früher gewohnt. Mir leuchtete nicht ein, warum Opa denn in Polen gewohnt haben sollte und warum die Ruhmeshalle in Polen einen deutschen Namen habe. Das sei alles einmal deutsch gewesen, meinte Opa und konnte nicht weiter reden. Als Kind nahm ich das so hin.
Wir gingen oft als Familie am Neißeufer in der Altstadt spazieren. Meist nahmen wir trockenes Brot mit und fütterten die Enten und Schwäne. Der Fluß selbst führte meist trübes Wasser, sodaß man trotz der geringen Tiefe den Grund nicht sah. Eben diese geringe Tiefe der Neiße an dieser Stelle führte zur Entstehung der Stadt Görlitz. Die Furt, jene seichte Stelle eines Flusses, die das Überqueren gestattet, ermöglichte es, daß im Mittelalter die Kaufleute mit ihren Pferdefuhrwerken den Fluß durchqueren konnten. So entstand der Handelsweg „Via Regia“ oder „Hohe Straße“, welcher Ost und West verband. Viele Jahrhunderte später nutzten dann andere Gruppen auf ihre Art und Weise die Furt: Angehörige mobiler ethnischer Minderheiten wateten im Dunkeln durch den Fluß, um das Sozialleistungsland zu erreichen. Schließlich gab es damals zwischen 1990 und 2004 noch Grenzkontrollen. Man mußte sich also zumindest die Füße naß machen, um illegal einzureisen und „Asyl“ zu sagen.
Was sollte ich auf der anderen Seite der Neiße? Drüben wohnten fremde Leute in den Häusern meiner Großeltern.
Als Ende der 1970er-Jahre in der DDR Geborener überquerte ich als Kind die Neiße nie. Die Grenze zu Polen war de facto geschlossen, man fürchtete, daß die Gedanken der Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ herüberschwappen könnten und der Grenzhandel der DDR-Wirtschaft schaden könnte. Aber auch die westliche Seite des Neißeufers brachte uns als Kindern viel Freude. Oft wanderten wir im Schatten der dichten Bäume am Ufer entlang. Der Weg führte unter dem großen Viadukt hindurch – einer imposanten steinernen Eisenbahnbrücke – und vorbei an der Brauerei Richtung Volksbad. Dort im Stadtteil Weinhübel bestiegen wir die Straßenbahn zurück in die Stadt. Auch lange Zeit nach der sogenannten „Wende“ 1989 überquerte ich den Fluß nicht. Inzwischen wußte ich, was die „Oder-Neiße-Linie“ war und wozu sie geführt hatte. Sowohl meine Großeltern mütterlicherseits als auch väterlicherseits wurden vertrieben und von ihrer angestammten Heimat „befreit“. Was sollte ich also auf der anderen Seite des Flusses? Drüben wohnten fremde Leute in den Häusern meiner Großeltern.
Erst als sich mein jugendliches Gemüt abkühlte, konnte ich die Neiße überqueren – tatsächlich ohne Stahlhelm, Uniform und Kettenfahrzeug. Mit meinem Vater besuchte ich sein Heimatdorf, sein Elternhaus und seine Taufkirche. Die Wut und der Zorn sind inzwischen fast vergangen. Der Schmerz aber bleibt. Oder und Neiße bleiben tief in meinem Herzen immer deutsche Flüsse.