von Georg Alexander
Irgend jemand hat einmal gesagt: „Berlin ist sicher eine tolle Stadt. Wenn man dort nicht lebt und auch nie hin muß.“ So schlimm ist es natürlich nicht, aber von einer gut funktionierenden Metropole, auf die das wichtigste Land Europas mit Stolz blicken könnte, ist Berlin doch weit entfernt. Die „Arm, aber sexy“-Stadt an der Spree wird seit jeher von den süddeutschen Bundesländern durchgefüttert, die sich als Dank dann anhören dürfen, wie provinziell und hinterwäldlerisch sie seien. Der Berliner findet das nur fair, und ein bißchen Chaos darf schon sein in einer Stadt, die Vergleiche mit anderen deutschen Städten als unter ihrer Würde betrachtet und sich auf Augenhöhe mit Paris, London und New York sieht. Auch wenn der Besucher sich stellenweise eher an Bombay oder Kalkutta erinnert fühlt.
Und jetzt war also wieder eine Wahl in Berlin und zwar zum zweiten Mal innerhalb von eineinhalb Jahren. Das kann einem Österreicher bekannt vorkommen, ist aber für Bundesdeutsche ein Skandal. Die Unregelmäßigkeiten beim Urnengang im September 2021 waren so drastisch, daß das Landesverfassungsgericht die Wiederholung der gesamten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus angeordnet hat. Lange Schlangen vor den Wahllokalen, die zeitweise überhaupt geschlossen waren oder teilweise noch weit nach Wahlschluß offenblieben, vertauschte Stimmzettel, wodurch der Wähler in Charlottenburg nur die Kandidaten von Friedrichshain ankreuzen konnte und umgekehrt, nachträgliche Ausbesserungen der Ergebnisse – so lauteten einige der zahlreichen Fehler. Dazu hatte man die tolle Idee gehabt, just am Tag der Wahl den Berliner Marathon abzuhalten, sodaß nach Erkennen der ersten Wahlpannen auch keine Abhilfe geschaffen werden konnte – die Boten mit den neuen Wahlzetteln waren im Stau steckengeblieben.
Man sollte die Frösche nicht zur Trockenlegung des Sumpfes befragen.
Spannend ist auch, daß die damals zeitgleich stattfindenden Wahlen zum Bundestag natürlich auch von diesen Mängeln betroffen waren, das Versagen der Wahlbehörden also nicht auf Berlin beschränkt blieb. Dazu kamen noch Absonderlichkeiten wie z.B. die Zulassung von 16jährigen zur Bundestagswahl, obwohl dort ein Mindestalter von 18 Jahren vorgeschrieben ist. Grund dafür war, daß in Berlin auf Bezirksebene schon mit 16 gewählt werden darf, man den Jungwählern einfach alle Wahlzettel in die Hand gedrückt hatte und natürlich im Nachhinein nicht mehr feststellen konnte, welche Stimme von einem 16jährigen abgegeben worden war und welche nicht. Wer jetzt glaubt, daß daraus automatisch auch die Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin folge, der hat die Rechnung ohne den Bundestag gemacht. Dort geht die Wahlbeschwerde nämlich an ein Komitee von Abgeordneten, die sich nach langem Hin und Her zur Wiederholung in ungefähr 200 von etwa 2.000 Wahlsprengeln durchgerungen haben. Dies wird aber nach Ansicht der meisten Experten nichts am Wahlergebnis ändern, da nur eine echte Wahlwiederholung in der ganzen Stadt die zwei Direktmandate der Linken ins Wanken bringen könnte, die dieser Partei trotz Unterschreitens der bundesweiten Fünf-Prozent-Schwelle den Verbleib im Bundestag gesichert hatten. Verliert die Linke nur eines dieser Mandate, müssen ihre 39 Abgeordneten den Bundestag verlassen, was auch weitreichende Auswirkungen auf die Mandate der anderen Parteien hätte. Aber man soll die Frösche eben nicht über das Trockenlegen des Sumpfes befragen. Aktuell hängt die Sache beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, und es ist nicht absehbar, wie man dort entscheiden wird. Mit einem Urteil ist frühestens im Sommer 2023 zu rechnen, also fast zwei Jahre nach der Wahl. Auch nicht schlecht, wenn die Wahlperiode insgesamt vier Jahre lang dauert.
Soweit ersichtlich ist die Wiederholung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus ohne gröbere Mängel abgelaufen. Großer Gewinner ist die CDU, die ein Plus von rund zehn Prozent erreicht hat. Die immer noch regierende Linkskoalition von SPD, Grünen und Linken wurde abgestraft, aber nicht so schlimm, wie viele angesichts der multiplen und teilweise hausgemachten Krisen erwartet hatten. Eine Fortsetzung der Verliererkoalition ist rechnerisch möglich. Die FDP ist am Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus gescheitert, die AfD hat zwar dazugewonnen, allerdings weniger, als man dort gehofft hatte.
Die Verhandlungen sind völlig offen, liegen doch SPD und Grüne fast gleichauf; die Sozialisten haben exakt 53 Stimmen Vorsprung. Daraus hatte die Berliner SPD-Chefin Giffey ursprünglich abgeleitet, daß natürlich sie Bürgermeisterin bleiben müsse. Nach Sondierungen mit den Grünen hat es sich Giffey aber anders überlegt und redet jetzt lieber mit der CDU. Dafür gibt sie aber das Bürgermeisteramt auf, das die CDU als klarer Wahlsieger für ihren Spitzenkandidaten Kai Wegener beansprucht. Nicht alle in der SPD finden das gut. So hat Giffeys eigener Kreisverband in Neukölln gegen Koalitionsverhandlungen mit der CDU gestimmt.

Wer die „falschen“ Fragen stellt, ist ein Rassist.
Noch ärger treiben es die Jusos, die den biederen Wegener offen als Rassisten beschimpfen, der am rechten Rand um Wählerstimmen fische. Die CDU hatte nämlich nach den Berliner Silvesterausschreitungen von den Behörden wissen wollen, ob die paar Deutschen, die man neben unzähligen Ausländern erwischt hatte, nicht zufällig einen Migrationshintergrund hätten und dazu deren Vornamen abgefragt. Auf der linken Seite sah man hier bereits das Dritte Reich auferstehen, während die CDU vorgab, es gehe ihr nicht um Stigmatisierung, sondern um „paßgenaue Antworten“. Natürlich lügen beide, aber der Erfolg gibt der CDU recht.
Was aber hat die Wahl 2023 mit den realen Verhältnissen in Berlin zu tun? Erstaunlich wenig. Denn wer den täglichen Wahnsinn in Berlin am eigenen Leib erlebt, der müßte der linken Koalition in Notwehr auf der Stelle seine Stimme entziehen. Statt nämlich die mannigfaltigen Probleme energisch anzugehen, verzettelt sich die Berliner Stadtpolitik an bizarren Nebenkriegsschauplätzen. Beispiele gefällig?
Ersatzhandlungen statt Problemlösung
Zu nennen wäre etwa der Umbau der Prachteinkaufsmeile Friedrichstraße in einen tristen Radfahrhighway mit Sperrholzmöblierung. Als man draufkam, daß das Prestigeprojekt der Grünen in Wahrheit rechtswidrig sei, hat man die Straße kurz für den Autoverkehr geöffnet, um sie gleich wieder zu sperren.
Oder das Aufstellen einer öffentlichen Toilette am Drogen- und Kriminalitätsschwerpunkt Kottbusser Tor, Kostenpunkt 56.000 Euro. Das kleine Häuschen steht mitten in einer Art Schlammhalde, und niemand hat daran gedacht, wenigstens den Zugangsweg zu asphaltieren. Dafür gibt es dort jetzt drei stille Örtchen, nämlich eine Toilette, ein Pissoir und ein „Missoir“. Letzteres ist eine Art Loch im Boden für Damen. Unnötig zu sagen, daß sich das Ganze bereits wenige Wochen nach Eröffnung in einem namenlosen Zustand befindet.
Dazu kommt, daß das eigentlich gut funktionierende S- und U-Bahn-Netz immer sanierungsbedürftiger wird und lange Sperren erforderlich macht. Viele Berliner fahren jetzt nicht mehr 45 Minuten lang zur Arbeit, sondern eineinhalb Stunden. Ganz zu schweigen von explodierender Bandenkriminalität und den Exzessen der Silvesternacht 2022, wo sich in einigen Problemvierteln ein migrantischer Mob stundenlange Straßenschlachten mit einer überforderten Polizei geliefert hat. Dieselbe Polizei darf dann aber auf Weisung der Politik keine Hausdurchsuchungen in offensichtlich der Geldwäsche oder anderen sinistren Tätigkeiten dienenden Shisha-Bars durchführen. Das wäre nämlich diskriminierend.
Schlimm sind auch die Defizite im Strafvollzug, die jetzt dazu geführt haben, daß ein zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilter Schwerkrimineller aus dem Berliner Gefängnis Moabit bereits nach wenigen Wochen entlassen werden mußte, weil es dort keinen Therapieplatz für seine Kokainsucht gab. Am Tag nach der vorläufigen Enthaftung bestieg er fröhlich ein Flugzeug in die Türkei.
Von der seit Jahren kaum noch funktionierenden Verwaltung reden wir lieber gar nicht. Vielleicht genügt es zu sagen, daß zur Vorbereitung der Wahlwiederholung ganze Bezirksämter geschlossen werden mußten, was natürlich den Rückstau an unerledigten Akten weiter erhöht hat.
Fast 50 Prozent der Wahlberechtigten wollen mit den „Blockparteien“ nichts zu tun haben.
Aber vielleicht tut man dem Berliner Wähler auch Unrecht. Da es offenbar egal ist, wen man wählt, weil sich die Zustände niemals ändern, flüchtet er ins Lager der Nichtwähler. Das haben 2023 immerhin 37 Prozent der Wähler getan. Rechnet man dazu die elf Prozent AfD-Wähler, ist man schon bei fast 50 Prozent Fundamentalopposition. Nicht zu vergessen sind dann auch noch diejenigen Unzufriedenen, die der Stadt massenhaft den Rücken kehren und ins brandenburgische Umland flüchten. Übrig bleibt dann ein Elektorat, das trotz aller Berliner Unmöglichkeiten weiterhin eine linke Mehrheit legitimiert.
Doch wer auch immer Bürgermeister wird: Berlin wird weiterhin eine Art „failed state“ innerhalb der Bundesrepublik bleiben und dauerhaft auf Alimentierung durch andere Bundesländer angewiesen sein. Und die große Klappe sowie moralische Schulmeisterung derjenigen, die all das finanzieren, sind ebenfalls alte Berliner Tradition.