Neue Serie: Mythen, Sagen, Wundersames (V)
von Alain Felkel
Was Jason, dem Argonauten, das goldene Fell des Opferwidders Chrysomallos war, das waren dem Amsbacher Zollschreiber Hans Ried Anfang des 16. Jahrhunderts die aus 122 Schafshäuten gefertigten Pergamentblätter des Amsbacher Heldenbuches: ein Schatz, wertvoller als Gold. Zwischen 1504-1517 schrieb Ried im Auftrag Kaiser Maximilians I. von Habsburg mehrere Epen des Hochmittelalters nieder, die er von älteren Handschriften kopierte. Eines von ihnen war das wahrscheinlich um 1230/40 entstandene Heldenepos Kudrun, das einzig und allein durch die Abschrift Rieds der Nachwelt überliefert ist.
Die Genese der Heldin
Der Inhalt des Heldenliedes gliedert sich in drei Teile: Im ersten Sagenkreis raubt ein Greif den Königssohn Hagen von Irland, als er noch ein Kind ist. Das Fabelwesen verschleppt Hagen auf eine Insel, um ihn an seine Jungen zu verfüttern, doch Hagen entkommt. Auf seiner Flucht trifft der Königssohn auf drei ebenfalls geraubte Prinzessinnen. Zusammen verbergen sie sich in einer Höhle, bis Hagen zum Mann heranreift und die Greifenfamilie tötet. Anschließend gelingt ihm mit den Prinzessinnen dank eines an der Insel vorbeifahrenden Schiffes die Flucht nach Irland.
Im zweiten Teil des Epos’ heiratet Hagen eine der Prinzessinnen und zeugt seine Tochter Hilde, die einige Jahre später von vielen Recken umworben wird. Die Brautwerber rennen Hagen die Tür ein, aber der läßt jeden töten. Nur mithilfe einer List gelingt es König Hetel von Hegelingen, Hilde zu entführen und sie zu ehelichen. Kurz darauf wird Kudrun geboren.
Der Brautraub
Im dritten Teil werben Hartmut von Ormanie (Normandie), Sigfrit von Morlant und der Däne Herwig von Seelant um die Schöne, die sich letztendlich für Herwig entscheidet. Die beiden verloben sich, leben jedoch noch getrennt voneinander. Kudrun bleibt in Hegelingen-Land. Als Sigfrit von Morlant dies erfährt, wird er eifersüchtig auf Herwig und überfällt Seelant. König Hetel eilt darauf seinem „Schwiegersohn“ mit einem Heer zu Hilfe, was Hartmut ausnutzt. Der Normanne erobert Matelane, die Hauptstadt der Hegelingen und raubt Kudrun. Als König Hetel darauf den Normannen mit seinem Heer nachsetzt, kommt es zur Schlacht. Die Hegelingen werden geschlagen, König Hetel fällt. Die Normannen entkommen und verschleppen Kudrun zu Hartmuts Burg Kassiane.
Die Befreiung
Aber Kudrun läßt sich durch die Gefangenschaft nicht brechen und bleibt Herwig treu. Sie weist Hartmut ab, auch wenn dessen Mutter Gerlind ihren Willen durch Sklavenarbeit zu brechen versucht. 13 Jahre lang hält Kudrun ihrem Verlobten Herwig die Treue, bis die Hegelingen sie nach einer Schlacht mit den Normannen befreien. Kudrun zeigt sich im Moment ihrer Befreiung barmherzig. Sie rettet Hartmut das Leben, kann jedoch die Ermordung Gerlinds durch seinen Gefolgsmann Wate nicht verhindern. Die Erzählung schließt mit einem „Happy End“: Kudrun heiratet Herwig und stiftet weitere Hochzeitsbündnisse mit dem ursprünglichen Gegner.
Dem Epos auf der Spur
So weit der Inhalt, dessen einfache Handlungsstränge durch das Brautraubmotiv geklammert werden. Die Stoffgeschichte erweist sich da schon als deutlich schwieriger. Hier führt eine Spur zu einer isländischen Hildesage, eine andere zum Nibelungenlied.
Der von der Germanistik favorisierte intertextuelle Vergleich mit dem Nibelungenlied überzeugt abgesehen von einigen formalistischen Gemeinsamkeiten wie Strophenaufbau und Versmaß nicht. Auch scheint die These von der Kudrun als Anti-Nibelungenlied stark konstruiert. Kudrun ist im Vergleich zum Nibelungenlied zu episodisch und zu redundant auf den Brautraub und dessen Ahndung fokussiert. Form sowie Inhalt sind eher dem höfischen Roman oder der Spielmannsepik als dem Heldenepos verpflichtet.
Im zweiten Teil des Nibelungenliedes wird die selbstzerstörerische Rache Kriemhilds erzählt, die alles verzehrt. Im Kudrun-Epos dominiert dagegen christliche Barmherzigkeit: So verzeiht Kudrun zum Beispiel nach ihrer Befreiung ihrem Entführer Hartmut, was im Nibelungenlied undenkbar wäre.
Christliche Botschaft des Heldinnenliedes
Dieser versöhnliche Aspekt erklärt vielleicht auch die wenigen Abschriften des Heldenliedes. Das Werk ist zwar abenteuerlich, aber für den Geschmack der Zeitgenossen nicht heroisch genug. Stattdessen punktet die Kudrun seit jeher im moralischen Bereich. Im 19. Jahrhundert wurde die Heldin aufgrund ihrer Treue von der älteren Forschung zum Ebenbild der deutschen Frau erkoren. Im 20. Jahrhundert erfolgte die Wertung ihrer Selbstbestimmtheit als Ausdruck gelungener Emanzipation.
Wer aber war der anonyme Verfasser des Epos’? Ein Vagant, adeliger Spielmann oder schriftstellender Mönch? War gar eine Frau die Autorin? Wo spielt die Handlung? Auch hier gibt es viele Hypothesen. Während die ersten beiden Teile des Kudrunliedes zumeist in Skandinavien angesiedelt werden, verortet man die Schauplätze des dritten Teiles mal an den Gestaden der Nordsee, mal am Schwarzen Meer, obwohl Handlungselemente wie das Auftauchen von Kreuzfahrerflotten eindeutig auf den Mittelmeerraum verweisen.
Bisher unentdeckte historische Indikatoren der Kudrun-Handlung
Denn ausgerechnet vierzig Jahre vor dem Entstehungszeitpunkt von Kudrun gibt es in Unteritalien und Sizilien ein normannisches Königreich. Des weiteren freit Sigfrit von Morland, ein schwarzhäutiger Maurenherrscher, um Kudrun, was auf den Orient oder Nordafrika verweist. Auch beschlagnahmen die Hegelingen sogar Schiffe einer Kreuzfahrerflotte, um mit diesen die räuberischen Normannen zu verfolgen, die Kudrun entführt haben.
Das Besondere ist folgender Umstand: Ende des 12. Jahrhunderts tobt zwischen Normannen und Staufern ein mörderischer Machtkampf um die Vormacht in Sizilien, bei dem die deutsche Kaiserin Konstanze von Sizilien 1189 vom Normannen Richard von Acerra im Auftrag des Normannenherrschers Tankred von Lecce entführt wird – ein ungeheuerlicher Rechtsbruch und frevelhafter Akt! Die Kaiserin wird monatelang unter strenger Aufsicht von Tankreds Ehefrau Sybilla von Acerra gefangengehalten, die sogar in der Kammer der Gefangenen schläft und ihren Mann zur Tötung der Kaiserin auffordert. Zum Glück für Konstanze läßt sich Tankred nicht darauf ein. Durch Vermittlung des Papstes wird Konstanze nach Rom überführt und auf dem Weg von kaiserlichen Reitern befreit. Aber Kaiser Heinrich VI. rächt die Schmach und läßt Konstanzes Entführer Richard von Acerra gefangen nehmen und hinrichten. Tankred von Lecce entgeht der kaiserlichen Rache nur dadurch, daß er bereits 1194 einer Seuche erliegt.
Diese Erzählmotive – die Entführung, die Gefangenschaft, die böse Wächterin bei Hofe sowie der Aufruf Sybillas, die Gefangene zu ermorden – finden sich eigenartigerweise alle im Kudrunlied wieder. Es sollte verwundern, wäre dies nur ein Zufall, zumal sich all diese Ereignisse ungefähr 40 Jahre vor der Entstehungszeit des Heldenliedes abgespielt haben. Aber zugegeben: Dies ist nur eine weitere Hypothese über den möglichen Werdegang von Kudrun. Die Suche nach der „DNS“ des Epos’ gleicht einer Entdeckungsfahrt ins Nirgendwo, ohne große Aussicht, jene Terra Incognita jemals sicher zu entdecken.