von Jakob Ungelter
Königsberg (heute „Kaliningrad“ in einem russischen Oblast), die Stadt an der Mündung des Pregels in die Ostsee, vom Deutschen Ritterorden im Hochmittelalter gegründet, sollte trotz ihrer Randlage in Ostpreußen bedeutsam für die deutsche und die europäische Kultur werden. Im Zuge der Reformation nutzte der letzte Hochmeister Albrecht von Brandenburg die Gunst der Stunde und seiner Konversion, um die Ordenslande in ein Herzogtum unter seiner Herrschaft zu wandeln. Albrecht, ein gebildeter Mann, verfügte neben einer bedeutenden privaten Büchersammlung auch über eine Schloßbibliothek von über 3.000 Bänden. Er suchte neben der materiellen Sicherung des Landes sein Herzogtum auch kulturell zu heben und gründete 1544 eine Universität in Königsberg, die nachmalig berühmte „Albertina“. Es galt, dem Land tüchtige Juristen als Beamte sowie Ärzte und Prediger zu geben und hier auszubilden. Da die notwendige Zustimmung von Papst und Kaiser nicht zu erlangen war, bemühte Albrecht sich um die Genehmigung seines Lehensherrn, des Königs von Polen, der sie 1560 erteilte. Durch den Erbgang zwischen den Hohenzollern der Mark Brandenburg und jenen des Herzogtums Preußen bildete sich die preußische Staatlichkeit, für die nach langen Verhandlungen 1701 ein Königtum nicht von, sondern „in“ Preußen geschaffen wurde: Brandenburg war ein Kurfürstentum, während Preußen im engeren Sinne außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation lag: Die Krönung Friedrichs I. fand 1701 denn auch in Königsberg statt.
Ännchen von Tharau und die „Salzburgerin“ Agnes Miegel
Das geistige Leben in Königsberg bewegte sich wohl im Rahmen der zeitgenössischen höfischen Kultur, die nach und nach durch eine bürgerliche ersetzt wurde, zumal das Schloß in Königsberg fortan nicht mehr Residenz war. 1730 erlebte das Land einen bedeutenden Zuzug von Protestanten, die vom Salzburger Erzbischof vertrieben worden waren, ein Ereignis, das mit Sicherheit auch die Königsberger Kultur beeinflußt hat. Eine bedeutende ostpreußische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Agnes Miegel, hat salzburgische Wurzeln. Die Universität war streng protestantisch, ihre erste Blüte sehen wir unter dem Rektorat von Simon Dach, der Poetik lehrte und durch seine umfangreiche lyrische Produktion große Volkstümlichkeit erlangte. Bis heute ist sein Ännchen von Tharau als Volkslied lebendig. Einer der später berühmten Studenten war der gelehrte Theoretiker der deutschen Literatur und Dichter Johann Christoph Gottsched, der aber bald nach Leipzig abging, angeblich, um den Werbern der preußischen Armee zu entkommen, weil er zu den „langen Kerls“ gepaßt hätte.
Die große Zeit Königsbergs setzte am Ende des 18. Jahrhunderts ein.
Das wohlhabende, kulturbeflissene Bürgertum liebte Musik, Theater und Literatur. Man versammelte sich einerseits in Salons, in Kaffeehäusern und Konditoreien, zum anderen in gelehrten Zirkeln und Gesellschaften wie der „Deutschen Gesellschaft“, aber auch in den Freimaurerlogen. Die Aufklärung, schon bald durchsetzt von Sturm und Drang und Romantik, erlebte eine Hochblüte. Dazu kamen Buchhändler und Verleger. Schon im 17. Jahrhundert arbeitete der Drucker Weinreich in Königsberg, der in die Hartungsche Buchhandlung und Druckerei überging. Es wurden nicht nur deutsche und lateinische, sondern auch litauische und polnische Werke gedruckt. Die Buchhandlung Kanter führte ein großes, offenes Haus. In ihren Räumlichkeiten fanden sich die neuesten Erscheinungen aus Leipzig und konnten von den Lesern nicht nur eingesehen, sondern an Ort und Stelle auch ausgiebig gelesen, ja manchmal auch entliehen werden.
Untrennbar verbunden mit der Stadt ist Immanuel Kant. Er wurde in Königsberg geboren, er lernte, lehrte, lebte und starb ebendort. Er war nicht nur ein großer Denker, sondern auch eine Figur bürgerlicher Kultur: Freund des guten Gespräches, guten Essens und Trinkens und der Geselligkeit. Befreundet war er mit Johann Georg Hamann, der gleichzeitig ein scharfer Kritiker der Kantschen Philosophie war. Hamann, unerhört belesen, auch gesellig, ist eine der gründenden Figuren der Sprachphilosophie und Kritiker der Aufklärung; als dem Genie-Gedanken zugeneigt außerdem einer der Väter des „Sturm und Drangs“, war er zudem von tiefer Religiosität. Daß er mit seinem Landesvater Friedrich dem Großen, der völlig im Banne der französischen Aufklärer stand, nicht glücklich war, drückte er auch in französisch verfaßten Opuscula aus. Friedrich II. hat übrigens Königsberg nie besucht, weil er der Stadt nicht verzeihen konnte, daß sie während der russischen Besetzung im Siebenjährigen Krieg der Zarin Katharina gehuldigt hatte. Hamann war wie Kant Lehrer des Ostpreußen Johann Gottfried Herder.
Kant, Hamann und Herder sind das Dreigestirn, das als Höhepunkt die Königsberger Geistesgeschichte überstrahlt.
Dabei ist die Epoche nicht arm an bedeutenden Gestalten. Theodor Gottlieb Hippel ist mit seinen Schriften, zum Beispiel Über die Ehe oder Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber in die Literaturgeschichte eingegangen. Er war Bürgermeister von Königsberg, ein Mann bedeutender schriftstellerischer, satirischer und gesellschaftlicher Begabung, von großer Phantasie und sprunghafter Kreativität, der darin auch an seinen aus Königsberg gebürtigen jüngeren Zeitgenossen E. T. A. Hoffmann gemahnt. Hoffmann, der geniale Dichter, gewaltige Trinker und bedeutende Musiker, war studierter Jurist und endete im Berliner Justizdienst. Der romantische Dichter Zacharias Werner aus Königsberg konvertierte zum Katholizismus, wurde Priester und ging nach Wien, so wie zeitweilig auch sein Landsmann, der bedeutende Musiker Johann Friedrich Reichardt, dem wir auch aufschlußreiche Memoiren verdanken. In der Philosophie hielt Johann Friedrich Herbart das Niveau der Königsberger Universität aufrecht, so wie später der universal angelegte Karl Rosenkranz.
Die Universität Königsberg behielt trotz der geographischen Randlage bis ans Ende ihren besonderen Ruf.
Dieser gründete sich auch auf hervorragende Gelehrte in den Naturwissenschaften. 1866 hatte die Anstalt vier Fakultäten, an denen 34 ordentliche und zehn außerordentliche Professoren sowie einige Privatdozenten lehrten. Zur medizinischen Fakultät gehörten neun Kliniken, die Universitätsbibliothek umfaßte 220.000 Bände. Den studentischen Nachwuchs lieferten allein in Königsberg drei Gymnasien. Im Jahre 1930 hatte die Hochschule über 4.000 Studenten. Die angesehene „Königsberger Gelehrte Gesellschaft“ hatte eine geisteswissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche Klasse und unterhielt in ihren Schriften eine gewichtige wissenschaftliche Publikationstätigkeit.
Auf einen berühmten Gelehrten der Germanistik soll hier ebenfalls hingewiesen werden: Der Deutsch-Böhme Josef Nadler war Ordinarius an der Albertina, von der aus er nach Wien berufen wurde, wo er bis 1945 lehrte. Ihm ist die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke von Johann Georg Hamann zu verdanken. Einen großen Teil des handschriftlichen Nachlasses von Hamann hatte Nadler auf eigene Kosten photokopieren lassen und damit vor dem gänzlichen Verlust bewahrt, da die Königsberger Bestände mit der Stadt im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Die Wiener Kollegen Nadlers haben nach dem Krieg besondere „Klasse“ bewiesen, als sie sich in einer Petition an das Wiener Unterrichtsministerium wandten, man möge Nadler den Gebrauch der öffentlichen Bibliotheken untersagen. Ein weiterer Österreichbezug ist durch Konrad Lorenz gegeben, der 1940 in Königsberg lehrte. Sogar noch nach dem Krieg finden wir sinnvolle Kontakte zur Nachfolgerin der Albertina, der nunmehr russischen Staatsuniversität Kaliningrad. Werner Kuich, ordentlicher Professor für mathematische Logik und formale Sprachen an der Technischen Universität Wien, hat als Gastprofessor an der Königsberger Universität das Fach Informatik aufgebaut und wurde deshalb auch mit deren Ehrendoktorat ausgezeichnet. Kuich war es auch wichtig, an jenem Ort zu lehren, an dem einer der großen Koryphäen der Mathematik, David Hilbert, gewirkt hatte.