Zum 200. Geburtstag des Entdeckers von Troja
von Jean-Jacques Langendorf.
Ein außergewöhnliches Schicksal trägt zur Legendenbildung bei und das von Heinrich Schliemann vielleicht mehr als alle anderen. Führen wir hier nur eine davon an: die von dem Kind, das in einer Schenke einen betrunkenen griechischen Matrosen ein paar Brocken Homer aufsagen hört und sich leidenschaftlich in die „Sprache der Götter“ verliebt.
Die Realität ist prosaischer: geboren 1822 in Neubukow im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin, fünftes von neun Kindern, der Vater Pastor, einigermaßen brutal, die Mutter verstorben, als er neun Jahre alt ist. Schenkt man seiner Autobiographie Glauben, ist es eine Universalgeschichte für Kinder, die sein Interesse für Troja weckt, das man damals bloß für eine schöne mythische Erzählung hält. Er lebt bei einem Onkel, der ebenfalls Pastor ist, während sein Vater, der in einen Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten gerät, von seinen Funktionen entbunden wird, was ihn unter anderem dazu zwingt, Heinrich vom Gymnasium zu nehmen und auf eine Realschule zu schicken, bis dieser 14 Jahre alt ist. Dann tritt er als Lehrling in einer Gemischtwarenhandlung ein. Seine Leidenschaft für die altgriechische Sprache aber entwickelt sich weiter, vor allem, als er einem seiner Freunde vom Gymnasium lauscht, wie dieser ihm auswendig einen Teil der Ilias aufsagt. 1841 verläßt er seine Heimatprovinz, geht nach Rostock und besucht eine Zeitlang eine Handelsschule, bevor er sich nach Hamburg begibt, wo er sich mit Hilfsarbeiten begnügen muß und schließlich im Gefolge einer Erkrankung buchstäblich dem Elend anheimfällt. Da klammert er sich an eine frühere Idee:
in die Vereinigten Staaten zu gehen, in das Land aller Verheißungen, vor allem für diejenigen, die sich in den Kopf setzen, dort Gold zu suchen und zu finden. Eine erste Reise allerdings scheitert, weil der Dreimaster, auf dem er sich einschifft, Schiffbruch erleidet. In Amsterdam ergattert er eine Stellung als Kontorbote in einem bedeutenden Handelshaus. Er macht sich daran, Sprachen zu erlernen, für die er ein besonderes, fast schon geniales Talent zeigt und von denen er bald ein gutes Dutzend in Wort und Schrift beherrscht, darunter Russisch und Arabisch – sowie selbstverständlich Griechisch und Altgriechisch. Nun kann sein sozialer und finanzieller Aufstieg beginnen. Von 1844 an ist er Handelskorrespondent und Buchführer. 1846 wird er nach Sankt Petersburg geschickt und eröffnet wenig später sein eigenes Handelshaus auf dem Newski-Prospekt, der prestigeträchtigsten Adresse der Hauptstadt. Es dauert nicht lange, bis er die russische Staatsbürgerschaft erwirbt, in einem Palais logiert, das ihm ein Freund zur Verfügung stellt und heiratet; drei Kinder bekräftigen diese Verbindung. Man möchte meinen, daß er es sich von nun an im Hausrock bequem machen und sich damit begnügen würde, sein Vermögen zu mehren, nicht nur, aber insbesondere im Tuch- und Kolonialwarenhandel. Schliemann aber ist ein Mann, der niemals innehält und nicht aus dem Holz, sich mit 25 Jahren zur Ruhe zu setzen.
1850 verwirklicht er seinen alten Traum und stößt auf Anregung seines Bruders, der als Goldsucher nach Kalifornien gegangen war, zu diesem nach Sacramento. Gold wird er tatsächlich suchen und finden, jedoch auf seine Art, indem er nämlich eine Bank begründet, welche die Nuggets der Goldsucher gegen Dollars eintauscht. Das Geschäft ist ausgesprochen lukrativ, umso mehr, als er auch in die aufkommende Eisenbahn investiert.
Der Krimkrieg (1853-1856), bei dem einander Großbritannien, Frankreich und Sardinien einerseits und Rußland andererseits gegenüberstehen, wird für ihn zu einem neuerlichen Glücksfall, denn er wird im großen Stil Lieferant der Armee des Zaren – für Schießpulver, Salpeter und andere Sprengstoffbestandteile – und versteht sich dabei darauf, die Blockade der Alliierten geschickt zu umgehen. Zu diesem Status gelangt, verfügt er über ein riesiges Vermögen, eines der größten in ganz Rußland. Sein Erfolg ist atemberaubend und verdient, daß man den Hut vor ihm zieht, umso mehr, als er von nun an in den Dienst eines alten Traums gestellt wird: Troja. 1864 zieht er sich aus dem Geschäftsleben zurück und unternimmt zahlreiche Reisen durch die ganze Welt. In Paris studiert er an der Sorbonne und veröffentlicht auf Französisch sein erstes Buch, das mit seinem bevorzugten Gebiet recht wenig zu tun hat, handelt es sich doch um den Titel „China und Japan in der Gegenwart“. 1869 heiratet er wieder: Sonia, eine junge Griechin von 17 Jahren, die später weltweite Berühmtheit erlangt, als sie sich mit dem Goldschmuck des sogenannten Priamos-Diadems photographieren lässt.
Nun, von 1868 an, ist die Zeit der Suche an Ort und Stelle gekommen, was Schliemann veranlassen wird, wiederum ein Buch zu veröffentlichen, über Ithaka, eine weitere Reise in die Vereinigten Staaten zu unternehmen, dort sogar die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu erwerben und sich im selben Aufwaschen scheiden zu lassen. Im August 1868 ist er zum ersten Mal in Troja und erforscht systematisch das Gelände. Es dauert nicht lange, bis er begreift, daß seine erste Lokalisierung Trojas, auf Basis von Homers Text, verfehlt ist, zu weit vom Meer entfernt; schließlich ist es das in der Nähe gelegene Hisarlik, auf das seine Aufmerksamkeit gerichtet bleiben wird. Im darauffolgenden Jahr nimmt er die Ausgrabungen im eigentlichen Sinne in Angriff, obwohl er von der osmanischen Regierung noch keine Genehmigung erhalten hat, mit seiner Suche zu beginnen; sie wird ihm erst später erteilt werden. Eine Anekdote illustriert sein unglaubliches Sprachtalent : Einen dreiwöchigen Aufenthalt in Konstantinopel, eben um die ominöse Genehmigung zu erlangen, nutzt er, um dort Türkisch zu lernen.
Schliemanns Ausgrabungen dürfen wir auf keinen Fall mit der heutigen Elle messen, mit Archäologen, die mit einer kleinen Kelle und einem Sieb ausgerüstet sind und sich Zentimeter für Zentimeter vorarbeiten, um winzige, im Erdreich verlorengegangene Bruchstücke zu gewinnen. Schliemann hält sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Er läßt einen Graben von zwanzig Metern Länge und drei Metern Tiefe ausheben, verwüstet dadurch einen Teil des Grabungsgeländes und macht es auf diese Weise für spätere Sucharbeiten unbrauchbar. Aber ist das nicht schlicht die Methode einer Archäologie, die ihre Mittel und Wege noch nicht gefunden hat, die noch in den Kinderschuhen steckt?
1873 hebt jene Grabungssaison an, die sich als die fruchtbarste erweisen wird. Ende Mai 1873, nachdem er bedeutende Überreste wie eine Straße und ein Tor ans Tageslicht gebracht hat, stößt er auf einen Goldschatz und dekretiert, daß es sich um den Schatz des Priamos handle, was seine Überzeugung festigt, tatsächlich Troja gefunden zu haben. Die Fachwelt aber ziert sich, weigert sich, diesen Fund anzuerkennen, der auf einen Amateur zurückgeht – mag dieser noch so reich sein und in der Zwischenzeit sogar einen Doktorhut erlangt haben. Die Aufmerksamkeit Schliemanns richtet sich fortan auf Mykene, nach wie vor in Weiterführung der Ilias. Nachdem er 1876 Gräber entdeckt hat, findet er darin wieder einen Schatz, darunter eine goldene Totenmaske und andere Grabbeigaben, was ihn sofort veranlaßt, zu deklarieren, er habe das Grab des Agamemnon und seiner Familie gefunden. Im Nachklang eines Prozesses, den die Hohe Pforte gegen ihn angestrengt und den er verloren hatte, war Schliemann gezwungen gewesen, eine beträchtliche Summe zu erlegen, um die Hälfte der von ihm entdeckten kostbaren Objekte mit sich außer Landes nehmen zu dürfen. Die Griechen hingegen erwiesen sich als deutlich umsichtiger und untersagten jede Art von Export.
Die Entdeckungen Schliemanns, umstritten und von ihm selbst mißinterpretiert, sollten seiner Laufbahn keineswegs ein Ende setzen, weit davon entfernt. Er sollte weiterhin an verschiedenen Orten, die ihm inspirierend schienen, Grabungen anstellen, was ihm ermöglicht, seine entsprechenden Techniken zu verfeinern. Er reist viel, erhält vielfältige Ehrungen, und selbst Preußen sollte ihm letzten Endes Anerkennung zollen, nachdem er den „Schatz des Priamos“ einem Berliner Museum gestiftet hatte; einen Schatz, den sowjetische Soldaten 1945 fortschafften und der seither im Puschkin-Museum in Moskau verwahrt wird.
Kaum jemals wird ein Mann erst von seinen Zeitgenossen, dann von der Nachwelt so verdammt worden sein. Man hat ihn einen Verderber und Plünderer von Grabungsstätten geheißen, einen Dieb archäologischer Fundstücke, einen Fälscher, einen Lügner und einen gefährlichen Amateur, unfähig, die Ergebnisse seiner Forschungen auszuwerten und zu interpretieren, aber sehr wohl fähig, sich unausgesetzt in Szene zu setzen. Was man ebenso wenig akzeptieren konnte – denn der Neid nistet überall – ist jenes geradezu unverschämte Vermögen, das er sich in kurzer Zeit erwarb.
Aber man darf nicht vergessen, daß Schliemann sich ganz am Anfang eines langen Weges befand, der schließlich in eine wissenschaftliche Archäologie mündete. Er selbst sollte im übrigen manche seiner Fehler eingestehen. Wenn man jedoch mit einer anderen Maßeinheit wiegt, muß man unbestreitbare Entdeckungen in die Waagschale werfen. Und es gibt ein anderes Maß, ein immaterielles, das noch schwerer wiegt: die Macht des Traumes, eines homerischen in diesem Fall, die ihn bei seiner Suche beseelen sollte. Es sind die Sätze eines anderen Archäologen – zwar vor allem durch seine kriegerischen Glanztaten in der arabischen Wüste zwischen 1916 und 1918 berühmt geworden, aber ursprünglich ebenfalls Archäologe – , die Sätze von T.E. Lawrence, die das Projekt Schliemanns am besten zusammenfassen: „Alle Menschen träumen, aber nicht alle gleich. Die in der Nacht in den staubigen Winkeln ihres Gehirns träumen, wachen am Tag auf und wissen, daß es nur Schäume waren; aber die Tagträumer sind gefährliche Menschen, denn sie könnten ihre Träume mit offenen Augen leben, um sie in die Tat umzusetzen.“
(Aus dem Französischen von Konrad Markward Weiß)
Über den Autor:
Prof. Jean-Jacques Langendorf, Jg 1938, Schweizer Schriftsteller und Militärhistoriker mit den Schwerpunkten Preußen, Österreich-Ungarn, Schweiz und Archäologie der Kreuzzüge, siehe karolinger.at
Forschungsdirektor am Institut de Stratégie Comparée in Paris.