von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (47)
Nach dem Zweiten Weltkrieg einer der bekanntesten Schriftsteller Deutschlands, gerierte sich der am 16. Oktober 1927 in Danzig geborene Günter Grass lange als Moralist mit erhobenem Zeigefinger, bis ausgerechnet ihn seine SS-Vergangenheit einholte und als Heuchler mit Doppelmoral entlarvte.
Grass war auch als Bildhauer, Graphiker und Maler aktiv, kam aber als Schriftsteller ganz groß heraus. Dafür war sein Roman Die Blechtrommel (1959) verantwortlich, dem Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) folgten – zusammen die Danziger Trilogie. Als zentrale Motive für Grass’ Arbeit werden immer wieder der Verlust seiner Heimat Danzig und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit genannt. Natürlich polarisierte Grass – nicht nur durch seine Sprache, sondern auch durch die von ihm gewählten Themen. Auch er setzte die Generation der Eltern und Großeltern auf die Anklagebank, was den Linken ungemein gefiel.
So blieb es nicht aus, daß der moralisierende Schriftsteller sich auch politisch betätigte, indem er über Jahrzehnte die SPD in Wahlkämpfen und als Redenschreiber u. a. für Willy Brandt, dem er persönlich verbunden war, unterstützte. 1965, 1969 und 1972 nahm Grass an den SPD-Wahlkampftouren teil und propagierte das, was die TV-Figur Alfred Tetzlaff in Ein Herz und eine Seele so ausdrückte: „Willy wählen, Willy wählen! Norwegische Emigrantenkanzler sind die besten!“ Grass nutzte seinen Einfluß als Mann der Feder, um sich über seine Rolle als Schriftsteller hinaus in der Öffentlichkeit zu bestimmten politischen Themen Gehör zu verschaffen. So trug er nicht unwesentlich zur Bildung jener „Geistes“-Haltung bei, die heute für die BRD offiziell prägend ist.
Grass, der sich selbstredend auch für die Rechte von Schwulen und Lesben sowie gegen Atomkraft engagierte, erhielt 1999 für sein Lebenswerk den Literaturnobelpreis. Daß er 2006 in einem Interview zu seinem autobiographischen Werk Beim Häuten der Zwiebel erwähnte, mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört zu haben, tat seinem Status als linker Säulenheiliger nur wenig Abbruch. Auch sein 2012 veröffentlichtes Prosagedicht Was gesagt werden muß mit seiner Kritik an Israel schadete Grass nur bedingt. Am 13. April 2015 verstarb er mit 87 Jahren in Lübeck an den Folgen einer Infektion.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.