Gottloser Osten?

Kaisers Zone (5)

von Benedikt Kaiser

Wohl in keiner anderen Region des heutigen Ostdeutschlands wird die Advents- und Weihnachtszeit so feierlich und intensiv begangen wie im sächsischen Erzgebirge. Die malerische Grenzregion zu Tschechien, die sich von der alten Bergbaustadt Johanngeorgenstadt über das Wintersportzentrum Oberwiesenthal bis hin zum Kurort Seiffen zieht, gilt als „Weihnachtsland“. Hochwertige Holzkunst, stimmungsvolle Weihnachtsmärkte, kulinarische Köstlichkeiten, dazu Bergparaden und Gottesdienste – dafür steht das „Arzgebirg“ mit seinen kleinstädtischen Zentren Annaberg-Buchholz, Schwarzenberg und Aue-Bad Schlema. Ist es da kein Widerspruch, daß „der Osten“ als atheistische Bastion gilt?

Tatsächlich hat die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland herausgefunden, daß der Anteil evangelischer Christen an der im heutigen Ostdeutschland wohnhaften Bevölkerung von 82% nach Kriegsende auf rund 20% abfiel, bei Katholiken von 12% auf 4%. Und diese Zahlen sind zehn Jahre alt. Mittlerweile sind zusammen nur noch rund 20% – und das oft nur formal – kirchlich gebunden. Das hat Gründe, die in der realsozialistischen und damit kirchengegnerischen DDR-Historie liegen. Nach 1990 kam die zeitgeistige Abwendung von Religion und Kirche hinzu.

Aber es gibt Ausnahmen. Neben dem Gebiet der sorbischen Minderheit („Lausitzer Serben“), wo man gegenüber der SED-Herrschaft wie auch dem BRD-Hedonismus religiöse Resilienz bewies, ist dies einerseits das katholische Eichsfeld im Nordwesten Thüringens, andererseits das Erzgebirge. Man bezeichnet letzteres gelegentlich als „sächsischen Bibelgürtel“, in Anlehnung an den US-„Bible-Belt“. Der Wahrheitskern: Evangelische und evangelikale Strömungen nehmen dort noch heute eine gesellschaftsprägende und lebensweltlich gestaltende Rolle ein. Tatsächlich sind es oft Freikirchen, die selbst von der Jugend Zulauf erfahren, nicht die „Amtskirche“.

Das heißt nicht, daß die Advents- und Weihnachtszeit im Erzgebirge allein deshalb so intensiv begangen wird; auch dort ist die Mehrheit atheistisch. Gleichwohl trägt die religiöse Verwurzelung dazu bei. Sie verstärkt die ohnehin traditions- und heimatbewußte Ausrichtung einer großen Zahl von Erzgebirgern.

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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