Gibt es ein „Volk der Ostdeutschen“?

von Benedikt Kaiser

Die Erinnerung an die Angriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ließen am ersten Jahrestag der blutigen Ereignisse ein anderes Gedenken beinahe vergessen: den Tag der Republik der DDR. Bereits am 21. April 1950 wurde der 7. Oktober zum Staatsfeiertag erklärt und mit großen Paraden und Festen begangen. Die Deutsche Demokratische Republik hatte wie jede realsozialistische Entität ein großes Interesse an derlei orchestrierten Festivitäten – sie sollten dem Volk die eigene Macht und Relevanz verdeutlichen.

Apropos „Volk“: Der Umgang mit dem Begriff des „deutschen Volkes“ im Rahmen der DDR-Ordnung war von 1949 bis 1990 steten Wandlungen unterworfen, die sich nicht zuletzt an wiederholten Änderungen des Verfassungstextes ablesen lassen. Das, was heute oftmals als „Volk der Ostdeutschen“ (Richard Schröder) verstanden wird und sich in prall gefüllten Fußballstadien („Ost-, Ost-, Ostdeutschland!“) ebenso materialisiert wie im Selbstbehauptungswillen des im Alltagsverstand verhafteten „Oststolzes“, hat sich jedoch im eigentlichen Sinne erst nach dem Beitritt der DDR-Gebiete zur BRD samt Schockfolgen gebildet. Der Essayist Johann Michael Möller gibt daher mit recht kund, daß „die“ Ostdeutschen von heute erst „mit der Wende entstanden“ seien. Noch zu DDR-Zeiten begriffen sich die einen DDR-Bürger simpel als Deutsche in einem geteilten Deutschland, viele „Normalbürger“ schlichtweg als Staatsangehörige der DDR, nur ganz wenige ideologisch Versierte als sozialistische Internationalisten.

Das formuliert Möller heute. Aber wie blickten Denker der volksverbundenen Szenerie, etwa der „Neuen Rechten“, auf dieses Sujet, und zwar nicht heute, sondern zu tiefsten Teilungszeiten?

Das über einige Jahrzehnte führende Organ des Milieus, das Junge Forum, verdeutlicht, daß man die Gefahr einer eigenständigen DDR-Volksidentität, die damit Ostdeutsche von der gesamtdeutschen Identität entfremde, antizipiert habe. Wolfgang Strauss (1931–2014) kann beispielhaft angeführt werden, der im besagten Jungen Forum (Nr. 5/1975) justament das Beispiel Österreichs als Mahnung nahm, die Identitätsbildung des realsozialistischen Versuchs auf mittel- bzw. nunmehr ostdeutschem Boden nicht zu unterschätzen. Immerhin hätten sich auch die Begriffe eines österreichischen Volkes bzw. einer österreichischen Nation, jeweils losgelöst von der gesamtdeutschen Frage, durchgesetzt, obwohl es wenige Jahre vorher noch unrealistisch und konstruktivistisch erschienen sein mochte. Das drohe auch in der DDR, wenn Honeckers Kurs – die DDR als eigenständige Nation mit eigenständigem Nationalvolk – Resonanz über engste SED-Kreise hinaus fände.

Strauss zerlegte den Volks- und Nationsbegriff der Honecker-SED, die sich diesbezüglich kraß von der frühen SED unter Ulbricht unterschied, und wies nach, daß die roten „Separatismuspäpste“ letztlich „Klassenbewußtsein als Plazenta eines angeblich neuen Nationalbewußtseins“ einsetzten, was man ihnen nicht durchgehen lassen dürfe. Sonst werde der Volks- und Nationsbegriff durch Honeckers Getreue umdefiniert, und das hieße, die volklichen (volksbezogenen) Bausteine zu schleifen und durch ökonomische (materialistische) zu ersetzen. Die ostdeutsche Nation der DDR wäre dann eine sozialistische Nation, bestimmt durch ihre Produktionsverhältnisse, nicht durch ihr Volk im ethnokulturellen Sinne, wohingegen die westdeutsche Nation der BRD dann eine kapitalistische Nation wäre, ebenfalls bestimmt durch ihre Produktionsverhältnisse, nicht durch ihr Volk im ethnokulturellen Sinne. Dieser doppelte Entwicklungspfad habe bereits eingesetzt und verschärfe sich weiter, so Wolfgang Strauß bereits 1975 im Jungen Forum.

Der „Hype“ um ein eigenes Volk der Ostdeutschen ist zuallererst eine Reaktion auf die westdeutsche Volksvergessenheit.

15 Jahre später, im „Wendejahr“ 1990, zeigte sich freilich, daß alle oberflächlichen Versuche Honeckers und alle staatlich orchestrierten Kampagnen, das DDR-Volk als eigenständiges Volk zu deuten, im Einheitsjubel untergingen. Die Ostdeutschen begehrten auf und strebten danach, sich selbst wieder ins deutsche Volk an sich einzufügen, da, wie der Leipziger Schriftsteller Erich Loest bilanzierte, das Prinzip der nationalen Einheit „im Herzen und Hirn der DDR-Bevölkerung lebendiger“ geblieben sei als in der BRD-Bevölkerung. Im Osten dominierte – oktroyierte SED-Ideologie hin oder her – die Überzeugung, „daß es ein Volk ist, daß es eine Sprache ist, daß es eine Nation ist“.

Wer im Jahr 2024 verstehen will, wieso sich ausgerechnet diese einheitssuchenden und einheitsliebenden Ostdeutschen stärker denn je in der eingangs zitierten Separatidentität eines „Volkes der Ostdeutschen“ beheimatet fühlen, wird nicht umhin kommen, die Kränkungs- und Enttäuschungserlebnisse in den Jahren nach 1990 stärker als bisher ernst zu nehmen: Der „Hype“ um ein eigenes Volk der Ostdeutschen ist zuallererst eine Reaktion auf die westdeutsche Volksvergessenheit.

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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