von Benedikt Kaiser
Sie ist unübersehbar zurück auf der Wahrnehmungsebene der deutschen Medien, das beliebteste Kleinkraftrad der DDR, namentlich die „Simme“ aus dem Hause der Simson-Fahrzeughersteller. Wobei: Eigentlich war sie ja ohnehin nie weg, nur medial nicht im Fokus – dazu weiter unten mehr.
In brandenburgischen Kleinstädten, in mecklenburgischen Weilern, in Randgebieten sächsischer Städte – überall konnte und kann man sie sehen, hören und riechen. Sie ist vergegenständlichter Ostkult, Sammler- und Liebhaberprojekt, motorisiertes Lebensgefühl vieler Generationen Mittel- bzw. Ostdeutscher. Wie es dazu kam? Nun: In der DDR gab es reichlich Mangel an PKWs und Motorrädern. Nicht so an Mopeds. Eine „Simme“ aus dem thüringischen Suhl war Volksgut, daher waren Simson-Mopeds und -Roller omnipräsent.
Arnold Freiburg hat 2013 in seiner Studie Zur Phänomenologie des abweichenden Verhaltens im sozialistischen deutschen Staat (Springer Verlag) nachgewiesen, daß es beispielsweise im Jahr 1975 in der gesamten Deutschen Demokratischen Republik ca. 123 Simson-Mopeds pro 1.000 Einwohner gegeben hat. Der Jugendforscher hebt in diesem Kontext hervor, daß die Ausstattung der ostdeutschen Bevölkerung mit entsprechenden Kleinkrafträdern diejenige in Westdeutschland (ca. 31 auf 1.000 Einwohner) um das Vierfache übertraf. Ganz anders verhielt es sich im Bereich der PKWs: Dort betrug das Verhältnis 2,6 zu 1 für die BRD. Aber es geht hier nicht „nur“ um Quantität, sondern auch um (gefühlte) Qualität, letztlich: um Genuß.
Denn eine Simson war (und ist) nicht nur schneller als BRD-Mopeds, sondern vor allem ein klassisches Geschenk zur „Jugendweihe“, also dem atheistischen Festäquivalent zu Kommunion und Firmung (katholisch) bzw. Konfirmation (evangelisch), d.h. zu Feiern, die in der religionskritischen DDR zunehmend verdrängt wurden. Viele Ostdeutsche verbinden also mit der Simson Jugendgefühle, Jugenderinnerungen, Jugendmobilität. Hinzu kam, daß die Simme wahrlich ein treuer Begleiter war. Zwar gab es unterschiedlichste Modelle; doch konnte man die Ersatzteile beinahe universell verarbeiten, austauschen und ersetzen. Eine eigene Schrauber- und „Do-it-yourself“-Mentalität entstand, die bis heute weitergetragen wird in ostdeutsche Garagen, Jugendclubs und Dorfmarktplätze des Jahres 2024. Kurz: Eine Simson steht für ostdeutsches Lebensgefühl seit Generationen, sie bleibt ein kulturelles, identitätsstiftendes und gewissermaßen auch abgrenzendes Symbol regionaler Selbstvergewisserung.
Im Juli 2024 geriet die Simme nun bundesweit in die Schlagzeilen. Das lag nicht etwa an verkehrspolitischen Skandalen über „getunte“, also stark manipulierte Maschinen, sondern im wesentlichen an drei Punkten:
Erstens sorgte das jährliche Simson-Liebhabertreffen in Zwickau für Furore. Abertausende Zweitaktbegeisterte zog es in die westsächsische 90.000-Einwohner-Stadt, die für ihren traditionsreichen Fußballverein, die legendären Sachsenring-Werke und das Wirken Robert Schumanns bekannt ist. Beim mehrtägigen Fest, bei dem die ostdeutsche Jugend – sie kam aus dem fernen Rügen ebenso wie aus dem nahen Vogtland – ihre Simson-Begeisterung zur Schau stellte, soll es zu „rechtsextremen“ Vorfällen gekommen sein, wie linke Medien allerorts berichteten. Auch von übergroßen AfD-Fahnen, nationalistischen Parolen und antilinken Slogans war die Rede. Die Polizei bat im Nachgang um Anzeigenstellung bei den Festteilnehmern; gemeldet wurde nichts. Der wiederholt orchestrierte Skandal – das Fest stand schon im Vorjahr im Fokus linker Großstadtjournalisten – ebbte dennoch nur langsam ab.
Zweitens brachte Björn Höcke die Simson ins bundesweite Fegefeuer. Denn Höcke ließ sich auf einer Maschine photographieren und filmen. Thüringens AfD-Landeschef spielte bewußt mit dem regionalen Bewußtsein und mit ostidentitären kulturellen Markern. „Rechtsextremismus“- und „Ostdeutschland“-Experten – oft inszenieren sie sich als beides zugleich – waren empört: Darf der das? Ja, der darf das, und so gelang Höcke ein weiterer Coup, indem er lebensweltliche Volksnähe und emotionale Heimat vor einem Millionenpublikum abbildete.
Drittens wurde die Simme zum medialen Renner, weil die Junge Alternative (JA), also die AfD-Jugend, in den Sommerwahlkämpfen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen auf der Simson-Welle surfte, eigene Spots drehte und Plakate entwarf. Ein „Ja zur Simson, nein zum Lastenrad“ sorgte bei vielen, insbesondere jüngeren Ostdeutschen für Schmunzeln. Die Grünen, für die politsymbolisch das verhaßte und verlachte Lastenrad steht, sind in vielen Ostkommunen konstant zwischen 0 und 2 Prozent Wahlergebnis anzusiedeln. Städte wie Potsdam und Leipzig stellen Ausnahmen dar – dort zünden derlei Sprüche freilich weniger.
Ist die Simme also jetzt politisch besetzt? Nein. Sie ist kein politisches Gut, sondern ein Volksgut. Da jedoch der linksliberale Mainstream in diesen Tagen nichts mehr haßt als ostdeutschen Stolz und daraus resultierenden ostdeutschen Selbstbehauptungswillen, wird ein solches Alltagsgut bereits zur konkreten Provokation. Daß die JA, Höcke und feiernde Heranwachsende in Zwickau diese Steilvorlage nutzen, entspricht dabei lediglich den gängigen Abläufen politmedialer Rituale und ist nur allzu verständlich: eine kleine Rebellion gegen ihr großes Unverständnis.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.