von Fabian Walch
Weit verbreitet ist das Wissen, daß sich in Gesamttirol drei Volksgruppen finden: Deutsche, Italiener, Rätoromanen. Weniger bekannt ist hingegen, daß sich dort im Zuge der Völkerwanderung zwei zentralgermanische Volksstämme, die dann Teil der Deutschen wurden, angesiedelt haben. Der Großteil Österreichs war Teil des bairischen Stammesherzogtums und ist entsprechend bairisch geprägt. Im Westen des kleinen Alpenlandes jedoch siedelten Alemannen. Vorwiegend in Vorarlberg beheimatet gibt es vereinzelt auch Alemannen in Tirol.
Alemannische Tiroler finden sich vorwiegend im Westen des Bundeslandes Tirol, insbesondere im Außerfern in Vils und dem Reuttener Talkessel, dem Tannheimer Tal und im oberen Lechtal. Der Lech bildet allgemein die Grenze zwischen alemannischem und bajuwarischem Siedlungsgebiet. Er fließt von Vorarlberg über das Außerfern ins bairische Schwaben durch Landsberg und Augsburg, bis er bei Marxheim in die Donau mündet. Ab etwa 500 erlebte das Gebiet mehrere Siedelungswellen. Alemannen, Bajuwaren und Walser wanderten in das Tiroler Lechtal und den Talkessel ein, in und um Reutte vorwiegend Allgäuer Siedler. Neben dem Außerfern leben aber auch Alemannen in Teilen des Tiroler Oberlandes, um den Arlberg und in der Region um Galtür, wo Walser zugewandert waren. Das ist noch heute neben der Dialektfärbung auch an den Orts- und Flurnamen erkennbar.
Die alemannischen Besonderheiten konnten sich vor allem aufgrund der Tiroler Topographie halten.
Die oft abgelegeneren Täler wie das Paznauntal begünstigten die Bewahrung von Dialekten und Bräuchen – gleichzeitig führten jedoch Handelswege zu Vermischung. Neben den natürlichen Grenzen wie Bergen und Flüssen kamen aber auch menschengemachte hinzu. Innerhalb von Gerichten, Grafschaften, Pfarren und Bistümern entstanden weitere verschiedene Färbungen. So etwa im Lechtal, wo im oberen und im untersten Teil des Tales sowie im Talkessel der alemannische Einfluß dominiert, während sich im mittleren und im unteren Talabschnitt das Bairische durchsetzte. Kulturell gab es, obwohl zu Tirol gehörig, dennoch starke schwäbische Einflüsse im gesamten Bezirk, da das Außerfern jahrhundertelang zum Bistum Augsburg gehörte. Erstmals erwähnt wird etwa die Pfarre Lechtal 1312. Die Walsersiedlung Galtür war hingegen Teil des Bistums Chur und entsprechend mehr am alemannischen Raum orientiert als an das bairische Inntalgebiet. Erst im Zuge der Säkularisierung wurden die Kirchenprovinzen neu geordnet und den politischen Gegebenheiten angepaßt. Die lange Zugehörigkeit hat jedoch ihre Spuren hinterlassen und vor allem auch Traditionen geprägt, die sich vom restlichen Tirol teils stark unterscheiden.
Der wohl größte Unterschied liegt in der Dialektfärbung. Geschulte Ohren können einen Sprecher, sobald er ein paar Worte spricht, ins entsprechende Tiroler Tal verorten. Besonders auffallend sind die Unterschiede zwischen alemannischen und bairischen Dialekten. Das Außerfern ist stark vom Schwäbisch-Alemannischen geprägt worden, gerade Vils und Reutte sowie das Tannheimer Tal aufgrund der geographischen Nähe zum bairischen Schwaben. Im oberen Lechtal hingegen stammt der Einfluß aus Vorarlberg, der sich über den Hochtannberg und aus dem Walserischen, einer Sonderform des Höchstalemannischen, verbreitet hat. Ein Mischdialekt mit alemannisch-walserischen Relikten findet sich auch im Paznauntal. Im Oberinntal hingegen hört man vorwiegend alemannische Merkmale, die flußabwärts abnehmen.
Das Tiroler Lechtal zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Dialektsituation aus, welche das Tal in drei unterschiedliche Mundarträume unterteilt. Der oberste Talbereich bis einschließlich Steeg und Kaisers gehört zum Höchstalemannischen mit Nähe zum Vorarlbergischen, insbesondere zum Wälderischen. Das mittlere Lechtal von Holzgau bis Stanzach wird dem bairischen Sprachraum zugeordnet. Im untersten Talbereich ab Forchach im Osten bis Lähn herrschen überwiegend schwäbische Mundartkennzeichen vor. Sie gehören der schwäbisch-alemannischen Dialektgruppe an, die Ähnlichkeiten mit den Dialekten des angrenzenden Allgäus aufweisen, vor allem im Talkessel und im Tannheimer Tal. Hier verläuft auch die schwäbisch-bairische Hauptgrenze, die sich etwa von „Daag“, „Wasser“ gegen „Doog“, „Wåssa“ und „däät“ gegen „daat“ (täte) abgrenzt. Das und die lange Zugehörigkeit zum Bistum Augsburg sind die Gründe, warum das Außerfern auch als „Schwäbisch Tirol“ bezeichnet wird. Das obere Lechtal sowie das Lermooser Becken sind wiederum stärker durch den Oberinntaler Dialekt beeinflußt.
Während es im Süden, Osten und im Zentralraum von Nordtirol „ålm/åjm“ (Bergweide) oder „wīsn“ (Wiese) heißt, zeigt sich im Westen mit „ålwe“ und „wīse“ der alemannische Einfluß, wo weiter westlich auch das -e verschwindet („alp“, „wīs“). Je weiter man ins Oberland kommt, desto stärker werden die alemannischen Einflüsse. Weitere Kennzeichen des Tiroler Oberlandes sind „gsejt“ statt „gsågt“ (gesagt) und „it“ statt „nit“ (nicht). Es wird auch eine typisch alemannische Ausdrucksweise verwendet. Im Oberinntal lauten Verkleinerungsformen auf „-le“, „-ele“ und „-eli“, während im übrigen Inntal ein „-l“ angehängt wird. Die Lautgruppen des kurzen „el“ werden im Oberland zu „al“: „Welt“ zu „Walt“ oder „Geld“ zu „Galt“, also vokalisiert.
Das berühmte Tiroler „k“ gilt nur für bairische Tiroler.
Auch wenn sich Nordtirol nach linguistischen Kriterien in zwei Dialektgruppen gliedern läßt, ist der Übergang zwischen den Dialekten doch fließend. In Gebieten wie Galtür oder dem Oberlechtal gibt es Mischmundarten, die eine Durchlässigkeit der Sprachgrenze zeigen. Diese Dialekte kombinieren sowohl bairische als auch alemannische Elemente, wobei zumeist ein Einfluß dominiert. Ein Merkmal zur Unterscheidung ist die Aussprache von Zwielauten wie „au“ oder „ei“. So sagt man in bairischen Dialekten „Haus“, im Alemannischen hingegen spricht man vom „Huus“. Zudem sind die Vokale oft offener, und auch das berühmte Tiroler „k“ gilt nur für bairische Tiroler, die es viel härter als „kch“ aussprechen. Blicken wir auf die Grammatik, fällt zudem auf, daß alemannische Dialekte häufiger den Einheitsplural wie im Schwäbischen verwenden, während bairische Dialekte unterschiedliche Formen haben. Es finden sich aber auch lexikalische Besonderheiten. Die „Gluuf/Glufa“ für Sicherheitsnadel im Tiroler Alemannischen ähnelt stark der schweizerdeutschen „Glufe“ oder schwäbischen „Glufa“. Im Wortschatz der bairischen Tiroler finden sich mehr romanische bzw. rätoromanische Einflüsse, während die alemannischen Tiroler schwäbische, schweizerische und walserische Elemente zeigen.
Die alemannischen Tiroler haben sich auch eine eigene soziale und kulturelle Identität bewahrt.
Neben dem Dialekt als Identitätsmerkmal, der oft mit einem starken Lokalpatriotismus einhergeht, haben sich auch besondere Traditionen erhalten, v.a. in abgelegeneren Regionen. Die alemannischen Tiroler verbinden Tiroler Brauchtum mit Elementen der schwäbisch-alemannischen Kultur, was sich etwa in ihren Fasnachtsbräuchen, Perchtenläufen und auch kulinarischen Traditionen zeigt. Etwa die besonderen Lechtaler Trachten zeigen dies eindrucksvoll. Auch wenn viele Bräuche mit dem bairischen Traditionsraum geteilt werden, findet sich immer wieder Alemannisches, das man auch in Vorarlberg, Schwaben oder der Schweiz kennt.
Aber auch in der Mentalität schlägt sich die Stammeszugehörigkeit nieder. Der Oberländer und Außerferner allgemein wie der Alemanne dort im speziellen gilt als kühler und reservierter gegenüber Auswärtigen. Es gibt bspw. den Spruch „bevor man von einer Oberländerin ein Bussi bekommt, bekommt man von einer Unterländerin ein Kind“. Alemannische Tiroler gelten als eher verschlossen und tauen nur langsam auf, sind dann aber sehr gesellig und treuherzig. Zudem gelten sie als besonders fleißig und sparsam, ganz wie ihre schwäbische Verwandtschaft. Daneben findet man auch freundschaftlich-neckisch Sonderbezeichnungen: Etwa „Gealrubeler“ für Bewohner am Arlberg wegen deren Karottenanbaus, „Zipflkappa“ für Lermooser wegen deren besonderen Zipfelwollmützen oder „Awighackte“ für die Bewohner der Außerferner Bezirkshauptstadt Reutte wegen ihres markanten Dialektes.
Beide Gruppen sind stolze Tiroler – Deutsche ohnehin.
Die alemannischen Tiroler zeichnen sich also mannigfaltig durch ihre sprachlichen und kulturellen Verbindungen zum alemannisch-schwäbischen Raum aus, die sich von den überwiegend südbairischen Dialekten und Traditionen des restlichen Tirols abheben. Ihre Dialekte sind geprägt von diversen alemannischen Einflüssen, und ihre geographische Lage sowie die historische Verbindung zum südwestdeutschen Raum verstärken diese Eigenheiten. Trotz der Unterschiede teilen sie aber die starke regionale Identität und die Heimatliebe, die ganz Tirol prägen. Beide Gruppen sind stolze Tiroler – Deutsche ohnehin. Immerhin wird von allen in der ersten Strophe des Andreas-Hofer-Liedes, der Tiroler Landeshymne, inbrünstig gesungen: „Es blutete der Brüder Herz, ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz“.
Über den Autor:
Fabian Walch, Jahrgang 1989, zog es nach seinem Studium der Geschichtswissenschaften an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck in die Politik. Er arbeitet zudem als Autor und hält Vorträge in den Bereichen Geschichte, Politik und politische Philosophie.