von Benedikt Kaiser
Der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler (geb. 1952) ist weniger bekannt als seine westdeutschen Kollegen. Das hat etwas mit dem strukturellen, ideellen und politischen Ost-West-Ungleichgewicht in der Bundesrepublik Deutschland zu tun, das bereits am Anfang der staatlichen Einheit von BRD und DDR bestanden hatte. Und das hat, in der kausalen Folge dieses ersten Aspektes, auch damit etwas zu tun, daß Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein – wie das gemeinsame Buch Englers mit der Autorin Jana Hensel Wer wir sind (Berlin 2018) untertitelt ist – schon rein quantitativ von allenfalls 15 Millionen Deutschen gemacht wird. Für mindestens 65 Millionen Westdeutsche, darunter zudem etliche Millionen Nichtdeutsche, ja sogar Nichteuropäer, ist das ostdeutsche Leben meist nicht von Interesse. Krasser noch: Je nach Umfrage waren 20 bis 35 Prozent der Westdeutschen noch nie in Ostdeutschland – aber nur rund drei bis fünf Prozent der Ostdeutschen noch nie in Westdeutschland. Vergleichbare Zahlen für Reisen aus Österreich in Richtung „alte“ und „neue“ Bundesländer wurden bedauerlicherweise noch nie erhoben; man darf aber getrost davon ausgehen, daß Bayern und Nordrhein-Westfalen häufigere Reiseziele sind als Sachsen und Brandenburg.
Wenn wir also jetzt beide Aspekte zusammentragen – erstens: Wolfgang Engler ist zu unbekannt, zweitens: der Osten und seine Lebenswelt sind zu unbekannt –, dann läßt sich in diesen Sommertagen nun bezüglich beider Mängel vortrefflich Abhilfe schaffen mit Englers sehr persönlicher, sehr ostdeutscher Neuerscheinung Brüche. Ein ostdeutsches Leben (Berlin 2025). Das Buch vermittelt Englers Lebensweg – aber allein dies wäre wohl zu speziell, da dessen Werk, wie erwähnt, für das breite Publikum zu unbekannt sein dürfte. Da aber hier eine ostdeutsche Gesellschaftsgeschichte von den späten 1950er-Jahren bis in die Gegenwart vorgelegt wird, ist das Buch weit über den begrenzten Kreis der Engler-Leser hinaus von Relevanz.
Apropos Gegenwart: Unvermeidlich ist, wenn ein Soziologe über „den Osten“ sinniert, selbstredend die Rolle der Ost-Volkspartei Alternative für Deutschland (AfD). Bei Engler bleibt plumpes AfD-„Bashing“ überwiegend aus; mit Didier Eribon, den er als kongeniales französisches Pendant der Gesellschaftsanalyse subjektiven Zuschnitts schätzt, könnte man sagen: Engler ist kein Freund der AfD, so wie Eribon kein Freund des Rassemblement National ist; beide versuchen aber, die Motive der Wähler zu verstehen – und halten den „Notwehr“-Aspekt einer relevanten Wählerzahl gegenüber einem als volksfern wahrgenommenen Establishment für eine mögliche Erklärung, für die jeweilige Partei zu optieren.
In einem Gespräch, das in der Wochenzeitung der Freitag als Begleitung zur Buchpublikation Englers erschien (Nr. 11/2025), führt dieser zudem aus, daß der „Aufschwung der AfD“ mit „der Krise der hegemonialen Kultur“ zusammenhänge. Der herrschenden „Mitte“ sei es gelungen, „ihre Vorstellungen, ihren Lebensstil, ihre Wertmaßstäbe zu den allgemein verbindlichen zu erklären, was eine gute Portion Verachtung für das Leben der Normalos einschließt“. Die AfD habe nun diese Verachtung gespürt, aufgegriffen sowie politisiert und ist damit in „Teilen des Ostens bereits mehrheitsfähig“. Man darf ergänzen: Das gelingt im Osten auch deshalb so gut, weil diese herrschende „Mitte“ explizit westdeutsch ist bzw. im Osten mindestens so wahrgenommen wird. Ost-Lebensgeschichten werden entwertet, Lebensläufe ignoriert oder, im Vergleich zu Pendants im Westen, als nachrangig eingestuft. Das schürt Wut – auch über die „Erlebnisgeneration“ der Wendezeit hinaus, verbreitet durch mündliche Weitergabe der Familienerzählungen an nachrückende Generationen.
Welches Wissen über „die Zone“ fehlt nun heute insbesondere in Westdeutschland? Zwei Aspekte von vielen können aus Englers Buch Brüche beispielhaft destilliert werden.
„Verschwenderischer Kultursozialismus“ der DDR
Erstens wäre da die Tatsache, wonach in der DDR die Theater und die Ausstellungen voll waren und die aktive Beteiligung am Kulturleben von Professoren bis zu einfachen Arbeitern und anderen „normalen Leuten“ reichte. Engler verweist auf eine enge „Verbindung von Arbeit und Kultur“. Ob Werkstheater oder Filmstudio, ob Fotozirkel oder Buchhandlung – in vielen größeren Betrieben und Kombinaten, wo der Alltag der meisten Ostdeutschen gelebt und erlebt wurde, gehörte das zur Grundausstattung. Engler diagnostiziert für die DDR-Arbeitsgesellschaft eine entsprechende „Anbindung des geistig-kulturellen Lebens an die Arbeitswelt“, die eine Art „Kultursozialismus“ hervorbrachte, der nicht ansatzweise rentabel, ja „geradezu verschwenderisch“ gewesen sei. Aber es gehörte eben zum ideologischen Fundament der Herrschenden der SED dazu: Der „arbeitende Souverän“ sollte sich und die Seinen kulturell „erziehen“ – fraglos im politisch-weltanschaulichen Rahmen, den ebenjene Herrschenden dirigistisch vorgaben. Der „wirtschaftliche Kahlschlag“ ab 1990 machte damit Schluß – die Kulturinstitutionen wurden ebenso rasch entwertet wie „die Erfahrungen und Kompetenzen von Millionen Ostdeutschen“.
Massenarbeitslosigkeit nach der Wende „wie ein aggressives Virus“
Zweitens hervorzuheben ist, damit durchaus verknüpft, die frühe Protestkultur in der Post-DDR-„Zone“. Denn obschon ein Großteil der Bevölkerung in den „neuen Bundesländern“ ab dem 3. Oktober 1990 mit Glücksgefühlen die neuen Konsum- und Reisemöglichkeiten wahrnahm, regte sich frühzeitig und dynamisch – losgelöst von der Minderheit von SED-Nostalgikern u.a. – Widerstand gegen die zu schnelle Übernahme und Auflösung ostdeutscher Bestände. Bereits im März 1991, also fünf Monate nach dem Tag der Deutschen Einheit, waren wieder 25.000 Menschen allein in Leipzig auf der Straße. Sie demonstrierten gegen die durch die Transformation der Wirtschaftsstrukturen grassierende Massenarbeitslosigkeit und den flächendeckenden sozialen Abstieg, dem nur kleinere ökonomische Gewinnerkreise der „Wende“ gegenüberstanden. „Die Revolutionäre von 1989“, so hieß es in Leipzig und anderswo fortan, dürfen „nicht die Arbeitslosen von 1991 werden“. Doch genau dies geschah vielerorts! Nicht nur in der Demonstrationsstadt Leipzig, sondern auch in Cottbus, Rostock, Zwickau und der soeben frisch zu Chemnitz rückbenannten ehemaligen Karl-Marx-Stadt gingen Massen auf die Straßen, um für ihre Interessen zu demonstrieren. Doch die allgemeine Mobilisierung ließ sich nicht organisieren und vereinheitlichen. Auch hatten viele Ostdeutsche zuviel mit ihren individuellen Umbrüchen zu tun, um sich in „die Politik“ zu stürzen. So war bereits nach wenigen Monaten Schluß mit der großen Mobilisierung „aller streit- und kampfbereiten Ostdeutschen“, wie Wolfgang Engler resümiert. Regionale Proteste flackerten indes weiterhin auf; die Kali-Kumpel von Bischofferode wurden 1993 für ihre Streiks bundesweit bekannt und erfuhren dann Würdigung sogar in Romanen – dazu an dieser Stelle ein anderes Mal mehr. Entscheidend nun ist, mit Engler gedacht, daß die Ursache für die abflauenden Proteste nicht verschwand: Es war dies jene Massenarbeitslosigkeit, die „sich wie ein aggressiver Virus“ ausbreitete und „ganze Landstriche veröden“ ließ, dabei in ganz Ostdeutschland „Tristesse“ und „Perspektivlosigkeit“ hervorrufend: „Der Osten, das ‚Outback‘ Europas. Die Einzelnen in Starre.“
Das hatte handfeste Gründe: Die Liste aller liquidierten DDR-Betriebe und Produktionsgenossenschaften durch BRD-Instanzen wie die Treuhand umfaßt selbst bei kleiner Schriftart 75 Seiten. Es ging dabei nicht nur um die Bereinigung des Marktes von unrentablen Störfaktoren. Es ging um Privatisierung im großen Maßstab, um circa 20 Milliarden Quadratmeter Agrarfläche, um bis dato „volkseigene“ Wälder und Seen, um 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, um 40.000 Geschäfte und Gaststätten, um über 600 Kliniken usw. usf.
Nachhaltige „Widerborstigkeit“ als Ergebnis
Dies alles – Massenarbeitslosigkeit, Entwertung von Lebensläufen, Privatisierung öffentlicher Güter zugunsten Westdeutscher etc. – hat, so Engler treffend, eine nachhaltige „Widerborstigkeit“ vieler Ostdeutscher hervorgerufen, die noch heute aufgrund der immateriellen und materiellen Folgeprobleme „ein demokratischer Veränderungswillen“ und die „Entschlossenheit“, mehr „mitzureden, mitzumischen, auch wenn es um die großen Fragen geht“, kennzeichnet.
Wer diese mentalen Prozesse, die in der Geschichte der „Zone“ wurzeln, heute verstehen will, sollte zu Wolfgang Englers Werk Brüche greifen. Man lernt und staunt zugleich, selbst dann, wenn man freilich nicht jede seiner subjektiven Wertungen und Noten teilen mag.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.