Italiens Innenpolitik und Parteiensystem
von Anna de Rensis
Dieser Schlüsselsatz aus dem berühmten Roman Der Leopard (Il Gattopardo) des sizilianischen Aristokraten Giuseppe Tomasi di Lampedusa bringt die Essenz der oft verwirrenden italienischen Innenpolitik auf den Punkt.
Die moderne italienische Politik beginnt mit einer Niederlage
Mit dem Waffenstillstand von Cassibile (1943) kapitulierte Italien bedingungslos vor den Alliierten. Gleichzeitig begann eine Phase des Widerstands, in der alle antifaschistischen Kräfte mit den Alliierten zusammenarbeiteten. Diese antifaschistische Koalition war sehr heterogen: Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Monarchisten, Christdemokraten, Liberale und Republikaner hatten sich zum Nationalen Befreiungskomitee (CLN) zusammengeschlossen. Ihnen gegenüber stand die Italienische Sozialrepublik (RSI), in der sich all jene sammelten, die sich weigerten, die Kapitulation zu akzeptieren und dem Duce weiterhin die Treue hielten. Dies führte zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den Partisanen des CLN und den Truppen der RSI, dessen beiderseitige Greueltaten bis heute unvergessen sind.
Entscheidung gegen die Monarchie, neue republikanische Verfassung
Nach dem Krieg gab es zwei prägende Ereignisse: zunächst 1946 das institutionelle Referendum zur Frage der Staatsform, also entweder Monarchie oder Republik, das die Republikaner mit 54% knapp für sich entschieden. Bis heute wird hier von erheblichen Fälschungen zu Ungunsten der Monarchie gesprochen. Es folgte die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung; im Zuge dieser Wahl zerbrach das Zweckbündnis der Parteien im Rahmen des CLN; drei Parteien gingen als Sieger hervor: die Christdemokraten (DC), die Sozialistische Partei (PSI) und die Kommunistische Partei (PCI). Am Ende stand eine republikanische Verfassung, die ein Kompromiß zwischen DC und PCI war, wobei wesentliche Elemente vom liberalen Bürgertum bestimmt wurden, das außerhalb dieser beiden Blöcke stand.
Die DC als stärkste Partei verfocht einen strikt pro-amerikanischen und pro-westlichen Kurs
Dies brachte Italien nicht nur viele Dollarmillionen aus dem Marshallplan ein, sondern auch bis heute 120 US-Militärstützpunkte, auf denen mehr als 70 Atomsprengköpfe lagern. Der italienischen Linken, deren Anführer stets einen direkten Draht nach Moskau pflegten, war diese Westbindung ein Dorn im Auge. Die US-Amerikaner waren sich der Gefahr einer linken Machtübernahme sehr bewußt und hatten noch während des Krieges begonnen, sich dagegen zu rüsten.
Analog zur amerikanischen Vorgehensweise in Westdeutschland, bei der im Rahmen der „Organisation Gehlen“ ehemalige Wehrmachtsoffiziere für den antikommunistischen Kampf gewonnen wurden, hatten die Amerikaner in Italien mit Pino Romualdi einen Ansprechpartner gefunden, der ihnen ehemalige Kämpfer der RSI zuführte. Dieser Romualdi war es auch, der durch geschickte Verhandlungen eine Amnestie für „minderbelastete“ Faschisten erwirkte und bereits 1946 mit der Italienischen Sozialbewegung (MSI) ein politisches Sammelbecken der Rechten gründete. Dem MSI war die Rolle eines treuen Verbündeten der USA im Kampf gegen den Kommunismus zugedacht. Allerdings wurde diese Rolle bereits von der DC besetzt. Daher positionierte sich der MSI als reiner Ansprechpartner der faschistischen „Nostalgiker“ und der ehemaligen RSI-Kämpfer. Diese Entscheidung erwies sich als erfolgreich: Bei den Wahlen von 1948 gelang es dem MSI, fünf Abgeordnete und einen Senator zu stellen.
Antikommunismus und Machterhalt: die „Fünferpartei“
Sieger dieser Wahl wurden die DC (48%), gefolgt von der Demokratischen Volksfront (Kommunisten und Sozialisten) mit 31%. Damit begann ein Jahrzehnt, das von zwar DC-geführten, aber dennoch schwachen und zerstrittenen Mehrparteienregierungen gekennzeichnet war, die vor allem zwei Ziele verfolgten: erstens die in Westeuropa stärkste kommunistische Partei, den PCI, von der Macht fern zu halten, durch einen cordon sanitaire aus allen Parteien, die für regierungsfähig gehalten wurden: die Liberalen (PLI), die Sozialdemokraten (PSDI), die Sozialisten (PSI), die Republikaner (PRI) und eben als bestimmende Partei die DC. Diese Fünf-Parteien-Koalition – im italienischen Politjargon als „Pentapartito“, Fünferpartei, bezeichnet – regierte mit zahlreichen Regierungskrisen und Regierungsumbildungen bis zum Ende der „Ersten Republik“.
Das zweite Ziel war der Machterhalt. Es sei an das Eingangszitat von Tomasi di Lampedusa erinnert: „Alles muß sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist“ – dies war der unausgesprochene Leitsatz dieser „Fünferpartei“. Nahezu zwangsläufig wurde dabei versäumt, die notwendigen Reformen in die Wege zu leiten, um das Land für die Erfordernisse der Nachkriegszeit fit zu machen. Denn in den 1950er-Jahren kam es in Italien zu einer Art „Wirtschaftswunder“. Zu Beginn der 1960er-Jahre war der Stiefelstaat in wirtschaftlicher Hinsicht also durchaus fortschrittlich, wobei alle Gesellschaftsschichten am Wohlstand partizipierten. Die gesellschaftliche Entwicklung hinkte dem aber hoffnungslos hinterher und wurde gelähmt durch die fatale Untätigkeit der politischen Führung.
Terror und Gegenterror während der „Bleiernen Jahre“
Dies war ein idealer Nährboden für Extremisten. Eine Welle von Protestaktionen, die sich von den Universitäten und Schulen auf die Fabriken und dann auf die gesamte Gesellschaft ausbreitete, mit dem Ziel, die soziale Organisation zu reformieren, stellte die Grundlagen der Gesellschaft auf allen Ebenen in Frage: Die 1968er Bewegung hatte Italien mit voller Wucht erfasst.
Die Methoden dieser „revolutionären“ Bewegung führten zu Straßengewalt, bewaffnetem Kampf und Terrorismus, die unter dem Schlagwort „Bleierne Jahre“ (anni di piombo) zusammengefaßt werden und über ein Jahrzehnt lang währten (1969-1980). In den Straßen gaben die subversiven Gruppen der extremen Linken den Ton an, die sich selbst als „außerparlamentarisch“ bezeichneten, im Gegensatz zu den Linksparteien im Parlament, die in den Augen dieser subversiven Linken die revolutionären Forderungen der Arbeiterbewegung „verraten“ hätten. Der Kampf der subversiven Gruppen richtete sich hingegen gegen jegliche Autorität – Staat, Polizei, Familie, Kirche, usw. Diese Gruppen zögerten nicht, zu Gewalt zu greifen: Der Höhepunkt waren die Entführung von Aldo Moro, einem hochrangigen DC-Politiker, durch die „Roten Brigaden“ (brigate rosse) und dessen Ermordung 1978.
Gegen den linken Terror formierte sich rechter Gegenterror in Form der Organisationen „Ordine Nuovo“ und „Avanguardia Nazionale“, die bereits Mitte der 1950er-Jahre aus der militanten Basis des MSI hervorgegangen waren und teilweise dessen parlamentarische Tätigkeit genauso vehement ablehnten wie die „Roten Brigaden“ den Parlamentarismus des PCI.
So wie die „Roten Brigaden“ teilweise im Sold von Moskau standen, hatten die rechten Terrorgruppen Verbindungen sowohl zu den italienischen als auch zu den britischen und amerikanischen Geheimdiensten aufgebaut und wurden im Zuge der sog. „Strategie der Spannung“ (strategia della tensione) eingesetzt. Durch über 140 Terroranschläge, die teilweise sehr blutig waren, sollte die italienische Bevölkerung für ein autoritäres Regime gewonnen werden, das die Ordnung wieder herzustellen versprach. Doch eine autoritäre Wende blieb aus. Bis heute sind die Urheber der meisten Terroranschläge unbekannt.
Die Freimaurerloge „P2“
Die 1980er-Jahre begannen mit einem Skandal: Die Ju-stiz deckte die Existenz der Freimaurerloge „P2“ auf. Nach dem Faschismus, der alle Logen aufgelöst hatte, war die italienische Freimaurerei unter amerikanischer Ägide wiedererstanden und vertrat einen stark antikommunistischen Kurs. Die sehr einflußreiche Loge versuchte, eine Zusammenarbeit der Regierung mit den traditionell starken, doch stets von jeder Regierungsverantwortung ausgeschlossenen Kommunisten zu verhindern. Eine solche Zusammenarbeit war vom ermordeten DC-Politiker Aldo Moro befürwortet worden und fand noch immer Zuspruch.
Des weiteren sollte die Kontrolle über die Massenmedien den Anliegen der Loge – im Wesentlichen eine strikte Westbindung sowie die Etablierung autoritärer Elemente im Staatsgefüge – zum Durchbruch verhelfen. Wie weit der Einfluß der „P2“ wirklich ging, wird wohl nie vollends geklärt werden. Ihr unzweifelhaft prominentestes Mitglied war übrigens jener Mann, der Italiens Medienlandschaft revolutionieren und lange die Politik dominieren sollte: Silvio Berlusconi.
Weitere Skandale prägten in der Folge die politische Landschaft: Im Verlauf der 1980er-Jahre waren mehrere Korruptionsfälle publik geworden, die einen Hinweis auf die Degeneration des politischen Systems gaben. Die gängig-ste Praxis bestand darin, von Unternehmern im Gegenzug für öffentliche Aufträge oder Informationen Schmiergelder zu kassieren. Sämtliche Regierungsparteien pflegten diese Praxis mit teilweise unverfrorener Offenheit. Die Bestechung war so fest verankert, daß sie als normales Verfahren angesehen und als „Kosten der Politik“ bezeichnet wurde.
Die „Erste Republik“, die 1946 begonnen hatte, fand ein unrühmliches Ende in den Trümmern der korrupten Parteien
Diese Situation dauerte bis 1992, als Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft ein dichtes Netz von Bestechungsaffären ans Licht brachten, das ganz Italien durchzog. Die in der Folge „Mani Pulite“ (saubere Hände) genannten Ermittlungsverfahren erreichten bald die Spitzen der Regierungsparteien des „Pentapartito“, die unter dem Druck der Enthüllungen zusammenbrachen und sich auflösten. Selbst die als unerschütterlich geltende DC verschwand von der Bildfläche. Bis heute gibt es in Italien daher keine christdemokratische Massenpartei.
Die Umwälzungen blieben jedoch nicht nur auf die Regierungsparteien beschränkt. Der Untergang der Sowjetunion zwang den PCI zu einem nachhaltigen Wechsel im Auftritt: Der traditionsreiche Name wurde abgelegt, dem Kommunismus wurde abgeschworen. Nach mehreren Häutungen entstand der „Partito Democratico“, der es zur Führung mehrerer Regierungen brachte und bis heute ein Faktor ist.
Aufstieg der Rechtsparteien
Der MSI, als einzige Partei von den Korruptionsaffären völlig verschont, blieb sich wohl am längsten treu. Erst mit der sog. „Wende von Fiuggi“ von 1995 wurden auch hier faschistisch-ideologische Altlasten entsorgt; unter dem Namen „Alleanza Nazionale“ wurde die Regierungsfähigkeit angestrebt. Diese folgte dann in den verschiedenen Kabinetten Berlusconi, der es verstand, mit seiner auf ihn zugeschnittenen Partei „Forza Italia“ (eigentlich der Schlachtruf der italienischen Fußballfans) die politische Bühne über Jahre zu dominieren, wobei sein privates Medienimperium ihm als perfekt geölte Wahlkampfmaschine zur Seite stand.
Komplettiert wurde das rechte Lager durch die als stramm föderalistisch gestartete „Lega Nord“, die als Protestbewegung des Nordens gegen Rom, gegen den Süden, gegen die Einwanderung spektakuläre Wahlerfolge feierte. Doch wie so oft verblaßte der Stern der rechten Parteien, sobald sie in Regierungsverantwortung eintraten. Berlusconi selbst wurde von Korruptions- und Sexaffären eingeholt.
Die „Alleanza Nazionale“ distanzierte sich bis zur Selbstverleugnung von ihrer Vergangenheit. Daher liefen ihre Mitglieder in Scharen davon und gründeten nostalgische Parteien in Anlehnung an den alten MSI. Die wohl wichtigste davon: „Fratelli d’Italia“, die nach vielen harten Jahren in der Fundamentalopposition unter ihrer Frontfrau Giorgia Meloni jüngst einen fulminanten Wahlsieg feierte. Die Lega hingegen wurde durch ihren vormals allmächtigen Vorsitzenden Matteo Salvini ins Abseits und in die Bedeutungslosigkeit geführt.
Nun also liegt der Ball bei Giorgia Meloni. Und es wird sich zeigen, ob in der italienischen Politik weiterhin der Grundsatz gilt: „Alles muß sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist“.
Über die Autorin:
Anna de Rensis, Jahrgang 1978, unterrichtet Griechisch und Latein in Bozen und engagiert sich in verschiedenen Initiativen der außerparlamentarischen Rechten.