Kaisers Zone (1)
von Benedikt Kaiser
„Der Osten steht auf.“ Gemeint ist: Im Osten der Bundesrepublik Deutschland wächst der Protest. Dieser richtet sich gegen die Energie- und Rußlandpolitik der Etablierten, gegen die „Ampel“-Koalition in Berlin, gegen die jeweilige Landesregierung usw.
Das Startsignal erfolgte Anfang September: Allein in Plauen und Leipzig – den Aufbruchsstädten der Wendezeit 1989/90 – demonstrierten tausende Teilnehmer. Von da an stiegen die Zahlen jeden Montag, dem traditionellen „Spaziergangstag“ des Volksprotests, kontinuierlich an. Der bisherige Höhepunkt: der 3. Oktober. Am „Tag der Deutschen Einheit“ versammelten sich in Gera 10.000, in Chemnitz 8.000, in Altenburg und Bautzen je 4.000, in Schwarzenberg, Leipzig und Dresden je 2.500 Bürger usf.
Über 100.000 Menschen aus den „neuen Bundesländern“ gingen an diesem historischen Tag auf die Straße, was im Westen erneut für Stirnrunzeln sorgte. „Was braut sich da nur zusammen und warum?“, fragen sich viele BRD-sozialisierte Deutsche aus den alten Bundesländern. Sie kennen aus historischen, mentalitätspsychologischen und identitätspolitischen Gründen keine vergleichbare Demonstrations- und Selbstbehauptungskultur. Neben diesen drei Faktoren spielen materielle Fragen eine erhebliche Mobilisierungsrolle: Zu DDR-Zeiten war es dem Normalbürger nicht möglich, Vermögenssubstanz aufzubauen. Nach der Zerschlagung der Ostwirtschaft durch Treuhand & Co. verloren Millionen DDR-Bürger ihre beruflichen Perspektiven. Diese Transformation der wirtschaftlichen Strukturen stellte eine Zäsur dar, die fast alle Familien betraf. Fast drei Jahrzehnte lang mußten sie sich alles neu aufbauen, nur um sich in den Coronakrisenjahren ihres mühsam aufgebauten Vermögens beraubt zu sehen. Auf diese lädierte Konstitution der Haushalte im Osten der BRD trifft die größte Wirtschaftskrise seit 1945: Gaspreisexplosion und galoppierende Inflation bedeuten für viele Bürger zwischen Vogtland und Pommernstrand nicht Verzicht auf den Zweiturlaub, sondern aufs Heizen. Vermögen und Löhne sind geringer als im Westen, der Leidensdruck höher. Auch deshalb steht der Osten auf und bleibt der Westen sitzen.
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.