Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

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Hans Krankl, Doppeltorschütze beim „Wunder von Cordoba“we

Österreichs Identität und der Sport

von Otto Hägberg

In keiner anderen Gesellschaft ist der Sport so eng mit Emotion, Identität und Alltagsleben verflochten wie in Österreich. Ob frischer Schnee auf den Alpenhängen, ausverkaufte Fußballstadien oder das Gespräch am Stammtisch – seit über 150 Jahren ist Sport nicht nur Bühne, sondern Herzstück dessen, was das Land ausmacht. Hinter jedem Sieg und jeder Niederlage verbergen sich Geschichten von Wiederaufbau, Hoffnung, Stolz und Zusammenhalt, die in den dunkelsten wie in den schönsten Tagen verbindend wirken.

Sport als Motor eines neuen Wir-Gefühls

Gerade im 20. Jh., als Kriege und politische Brüche Österreich immer wieder herausforderten, erwies sich der Sport als Motor eines neuen „Wir-Gefühls“. Er brachte Menschen aller Schichten zusammen, verwandelte einzelne in nationale Vorbilder und schrieb Legenden, die das kollektive Gedächtnis bis heute bewegen. Doch die Frage, ob Österreich wirklich eine Nation sei oder doch nur ein Reststaat, ein Bruchstück, das durch die Sieger der Weltkriege geschaffen wurde, bleibt unbeantwortet.

Wer verstehen will, was Österreich bewegt, muß auf die Sportgeschichte blicken. Von den ersten Vereinsgründungen Mitte des 19. Jh. zieht sich eine Linie aus Leidenschaft, Gemeinschaft und dem Streben nach Selbstverwirklichung durch die Jahrhunderte. Alpenverein (1862), Ruderverein LIA (1863), Turnbewegung: Sport war von Beginn an mehr als bloße körperliche Ertüchtigung. Es ging um Tugenden wie Disziplin, Kameradschaft und Ausdauer – Werte, die bis heute das Selbstverständnis prägen. Oder wie es Turnvater Jahn formulierte: „Frisch, fromm, fröhlich, frei.“

Schon damals kamen Menschen in Scharen zusammen. Mit der Ausbreitung des Fußballs wurde der Schritt vom elitären Zeitvertreib zum Massenphänomen vollzogen. Plötzlich bedeutete ein Tor nicht nur sportlichen Erfolg – es wurde zum Symbol der Zusammengehörigkeit. Diese Kraft der sportlichen Einigkeit nutzten politische Eliten für ihre Ziele. „Wenn wir gegen Deutschland spielen, geht es nicht nur ums Spiel. Es geht ums Prinzip“, schwärmte ein Fan der 1930er-Jahre. Doch wenn elf Männer aus Wien gegen elf Männer aus Berlin antreten, stehen dann nicht in Wahrheit Deutsche gegen Deutsche auf dem Platz? Die Inszenierung einer eigenen Identität ist Propaganda, die durch Siege im Fußball oder Medaillen bei Olympischen Spielen dem Volk eingeredet werden soll.

Nach den beiden Weltkriegen und dem Zerbrechen alter Ordnungen wurde Sport in Österreich zur künstlichen Nationsbildung benutzt.

Doch Sport kann nicht eine Nation erschaffen, wo keine ist. Sprache, Kultur und Geist Österreichs sind deutsch. Nach 1918, in wirtschaftlicher Not und politischer Unsicherheit, wurden Sportplätze und Turnhallen zu sozialen Treffpunkten. Das neue, konstruierte „Wir-Gefühl“ sollte jenes der Volkszugehörigkeit ablösen. Besonders Siege gegen Deutschland wurden instrumentalisiert, um ein Bewußtsein zu schaffen, daß Österreich mehr sei als ein Abspaltungsprodukt der k.u.k.-Monarchie. Die Erfolge der Athleten waren jedoch nicht das Werk eines eigenständigen „österreichischen Volkes“, sondern Teil des deutschen Erbes. Nach 1945 verlor Österreich seine Zugehörigkeit, seinen gemeinsamen Bezugspunkt und die Zuversicht. Der Sport sollte zusammenschweißen, nicht spalten. Die „österreichische Nation“ benutzt ihn, um die natürliche Einheit mit Deutschland zu verleugnen. So wird das Stadion zur Bühne der Täuschung – eine Inszenierung, die suggeriert, man sei kein Deutscher.

Trotz dieser politischen Anstrengungen bleiben sportliche Erfolge im gesamtdeutschen Zusammenhang unvergessen. Ein bekanntes Beispiel ist der SK Rapid Wien. 1938 wurde Rapid Sieger des Tschammer-Pokales, des Vorläufers des DFB-Pokales, und 1941 Deutscher Meister nach einem Sieg gegen Schalke 04. Beide Titel gelten bis heute als Meilensteine der Vereinsgeschichte. Im kollektiven Gedächtnis der Rapidfans und der österreichischen Fußballgeschichte haben diese Ereignisse einen festen Platz, der Sieg der deutschen Meisterschaft 1941 wird heute noch intensiv gefeiert und die Erinnerung daran am Leben gehalten.

Nationalbewußtsein manifestiert sich nicht nur politisch, sondern auch symbolisch, z.B. durch Rituale, die kollektives Erinnern und Identität stiften sollen.

Das nationale Gedächtnis funktioniert wie ein „Theater“, in dem ausgewählte historische Ereignisse symbolisch inszeniert werden, oft vermittelt über Medien und ohne eigene Teilnahme. Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Verbreitung und Tradierung kollektiver Erinnerungen. Sie sind nicht nur technische Kanäle, sondern steuern kulturelle Erinnerung, die sozial institutionalisiert und funktionalisiert wird. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Nicht nur in diktatorischen Systemen, sondern auch im demokratischen Österreich wurde das Stadion zur politischen Bühne. Wer gewinnt, wer verliert und wie, war immer Teil gesellschaftlicher Selbstverortung. Instrumentalisierte Erfolge zeigten, wie gefährlich die Verschmelzung von Sport, Macht und Ideologie sein kann.

Nach 1945 veränderte sich die Bedeutung dessen, in Österreich „deutsch“ zu sein, grundlegend. Während im 19. und frühen 20. Jh. fast alle Österreicher sich als Teil einer deutschen Kulturnation sahen, bewirkten politische Maßnahmen wie das Verbot des Anschlusses und das Verbot nationaler Symbole eine Wandlung. Nun wurde der „homo austriacus“ kreiert – eine eigene Art Mensch mit eigener Sprache, eigenem Wesen, eigener Musik und eigener Literatur. Das Augenmerk lag auf der Abgrenzung zum Deutschen.

Die neuen Helden des Sports waren „Paradeösterreicher“ ohne Verbindung zum politisch unerwünschten Deutschtum.

Toni Sailer gilt dank seiner drei Siege bei den Olympischen Winterspielen 1956 in Cortina d’Ampezzo als Vater der österreichischen „Skination“. In den 1970er-Jahren heizte Franz Klammer mit seiner gewagten Olympiasiegfahrt weiter an: „Ich wollte nicht nur gewinnen, sondern beweisen, daß Risikofreude und Leidenschaft unser Land ausmachen.“ Sein Triumph wurde zur nationalen Parole: „Österreich ist bereit, alles zu wagen und zu gewinnen“. Annemarie Moser-Pröll, mehrfache Weltmeisterin, erklärte: „Ich habe für meine Familie, für mein Land, für alle gewonnen, die glauben, daß ein Kind aus dem Ennstal Großes leisten kann.“ Hermann Maier, der „Herminator“, überlebte schwerste Stürze und kämpfte sich zurück – sein Motto „Aufgeben gibt’s nicht“ wurde zur Redewendung im ganzen Land. Marcel Hirscher bewies der Welt: Mit Perfektion, Technik und mentaler Stärke kann Österreich die Besten herausfordern. Seine acht Gesamtweltcups in Serie gelten als sporthistorischer Kraftakt. „Ich fahre nie nur für mich – wenn Österreich zuschaut, werde ich zum Löwen.“

Identität entsteht nicht nur im Schnee.

Auch die Fußballhelden prägten das Land. Das „Wunder von Córdoba“ 1978 – 3:2 gegen den großen Nachbarn Bundesrepublik Deutschland – bleibt bis heute im kollektiven Bewußtsein verankert. Der frenetische Aufschrei des Sport­reporters Edi Finger sen. „I wer narrisch!“ wurde zur ikonischen Chiffre für Glückstaumel und nationale Genugtuung.

Die Zeiten, als Karl Renner die Deutschen und Deutsch-Österreicher als einen Stamm und eine Schicksalsgemeinschaft bezeichnete, sind vorbei. Seit mehr als hundert Jahren folgen die Deutschen aus den Alpenländern nun der österreichischen Sportberichterstattung, die auch gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt. Die wachsende Diversität der Mannschaften, Initiativen zu Inklusion und Nachhaltigkeit sowie Debatten über Fairneß und Gender haben moderne Sporthelden längst übernommen. Die Rolle der Medien hat diesen Prozeß stark beschleunigt: Erst Radio und Zeitung, dann das Fernsehen multiplizierten nicht nur die Reichweite, sondern auch die Emotionalität der Ereignisse. Plötzlich wurde ein Goldlauf nicht nur national, sondern international zum bewegenden Moment. Medien formten Helden und griffen deren Worte auf; zahllose Kinder wünschten sich nach jeder Medaille, auch einmal wie Sailer, Maier oder Hirscher zu sein.

Zuletzt bleibt die Erkenntnis: In Österreich hat jeder Medaillengewinn, jedes legendäre Spiel, jedes Comeback eine tiefere Bedeutung. Sie stehen für den gemeinsamen Willen, den Glauben an das Mögliche und den Mut, immer wieder aufzustehen – egal, ob für Deutschland oder Österreich. Sport war in der Geschichte Österreichs immer mehr als Spiel. Er ist das soziale Band, die Bühne für Mythen und ein Spiegelbild der Gesellschaft. Dort, wo gejubelt, gezweifelt, gekämpft und gefeiert wird, pulsiert der Herzschlag einer Nation.

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