von Alois Pressler
Statistiken sollte man nicht ohne weiteres trauen, das dürfte hinlänglich bekannt sein. Liest man über Deutsche in der Türkei, so schwanken die Zahlen zwischen 25.000 und 150.000 Personen; beim überwiegenden Teil davon dürfte es sich allerdings wohl um Rückwanderer handeln, die während ihres Aufenthalts in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Dieser Aufenthalt hat viele von ihnen allerdings nachhaltig geprägt, davon zeugen zahlreiche Häuser der Rückwanderer in ihrer alten Heimat, deren Architektur dem klassischen deutschen Einfamilienhauses gleicht, bis hin zum Gartenzwerg im Vorgarten. Doch es gibt sehr wohl auch Deutsche, welche die Arbeit, persönliche Umstände oder das Weltgeschehen in die Türkei verschlagen haben. Die größte Gruppe von ihnen sind Arbeitnehmer mit zeitlich begrenztem Aufenthalt. Eine wachsende Gruppe stellen aber diejenigen Deutschen dar, die aufgrund der höheren Kaufkraft des Euros ihr Altenteil an der Mittelmeerküste verbringen. Entsprechend wird Alanya unter Türken inzwischen gerne scherzhaft in „Almanya“ umgetauft.
Teutonia Istanbul
Abgesehen von einigen wenigen Diplomaten, Händlern, Abenteurern, den während der osmanischen Herrschaft Verschleppten sowie natürlich den Offizieren, die bei der Modernisierung der osmanischen Armee behilflich waren, beginnt die Geschichte der Deutschen in der Türkei um 1850. Im Zuge des Ausbaus der Schiffahrt auf der Donau waren es vor allem Geschäftsleute aus Österreich, die sich in Istanbul und an der Schwarzmeerküste niederließen, sowie Kaufmänner aus dem deutschen Teil der Schweiz. 1843 gab es bereits eine evangelische Gemeinde am Bosporus, 1846 wurde das Deutsche Krankenhaus errichtet, 1847 der Verein „Teutonia“ in Istanbul ins Leben gerufen – eine gesellige Vereinigung, die dem typisch deutschen Bedürfnis nach gelebter Vereinsmeierei bis in die 1970er-Jahre Rechnung trug; der Verein existiert auch heute noch, allerdings leider ohne wirkliche Tätigkeit. 1868 wurde die Deutsche und Schweizer Bürgerschule gegründet, 1882 folgte das österreichische St. Georgs-Kolleg; beide Institutionen bestehen auch heute noch.
Nach dem Zerwürfnis gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurden die Deutschen beinahe zur Gänze ausgewiesen.
Der Streit fand aber bald ein Ende, wozu verdeckte Waffenhilfe während des türkischen Freiheitskrieges beigetragen haben mag, und schon bald kehrten viele der Vertriebenen wieder zurück. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten folgte eine kleinere Auswanderungswelle nach Anatolien; der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk bot insbesondere den aus religiösen oder politischen Gründen emigrierten Wissenschaftern und Künstlern freudig eine neue Heimstatt an. Das türkische Parlamentsgebäude in Ankara etwa wurde nach den Plänen von Clemens Holzmeister erbaut. Eine Massenmigration wurde allerdings nicht zugelassen; die nationalistische Ideologie Atatürks und seines Nachfolgers Inönü ging so weit, daß selbst die Repatriierung jüdischer türkischer Staatsbürger aus Frankreich abgelehnt wurde. Der Großteil der damals exilierten Deutschen kehrte nach dem Kriegsende wieder heim.
Deutsch-türkischer Sanierer „erschafft“ Erdoğan.
Der Kemalismus war wohl auch der Grund, weshalb sich die Deutschen nicht als Volksgruppe in der Türkei etablieren konnten: Wer ein Unternehmen gründen wollte, wer als Arzt oder Apotheker tätig war oder für staatliche türkische Institutionen arbeitete, mußte bis vor einigen Jahren türkischer Staatsbürger sein, was dazu führte, daß viele Deutsche in den Statistiken nicht mehr als solche aufscheinen. Mischehen und die verhältnismäßig geringe Anzahl Deutscher in der Riesenstadt Istanbul beschleunigten ebenso die Assimilation; der wohl bekannteste Sprößling einer solchen binationalen Ehe ist Kemal Derviş, ehemaliger Vizepräsident der Weltbank und türkischer Wirtschaftsminister, dessen rigider, mit deutscher Gründlichkeit durchgeführter Sanierungskurs einerseits zwar die türkische Wirtschaft vor dem totalen Zusammenbruch bewahrte, andererseits aber durch die resultierende Verbitterung der Bevölkerung den Aufstieg Erdoğans ermöglichte.
Doch wie immer gibt es eine Ausnahme, leider eine sehr kleine: die Deutsch-Balten in Karş, im Nordosten der Türkei. Die Geschichte der deutsch-türkischen Migration bleibt also eine eher einseitige Angelegenheit, trotz all der durchaus bemerkenswerten Spuren, die Deutsche in der Türkei hinterlassen haben.