Bismarck und Afrika

von Erik Lehnert

Das Urteil über den deutschen Kolonialismus scheint für alle Zeiten festzustehen. Der Versailler Vertrag begründete 1919 den Verlust der Kolonien mit „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“. Es habe dort keinen Fortschritt, sondern nur brutale Unterdrückung gegeben. Diese Begründung sorgte durch ihre offensichtliche Verlogenheit für Erbitterung bei den Deutschen, denn jeder wußte um die menschenverachtende Kolonialpolitik der Alliierten. Verstärkend wirkte die Tatsache, daß die Sieger die deutschen Kolonien als sogenannte Mandatsgebiete ihren eigenen Überseegebieten zuschlugen, sie also de facto trotz aller Selbstbestimmungsrhetorik Kolonien blieben. Aus dieser Heuchelei erklärt sich das Paradoxon, daß sich die Deutschen nach dem Verlust viel stärker für Kolonien zu begeistern schienen als jemals zuvor. Ein Gradmesser dafür sind die Mitgliederzahlen der verschiedenen Kolonialvereine: So waren vor dem Ersten Weltkrieg nie mehr als 43.000 Deutsche Mitglieder in der Deutschen Kolonialgesellschaft, 1940 im Reichskolonialbund aber über zwei Millionen.

Deutschlands Zeit als Kolonialmacht erstreckte sich über kaum 35 Jahre.

Das deutsche Kolonialreich begann im April 1884, als in Südwestafrika umfangreiche Ländereien zum deutschen Schutzgebiet erklärt wurden, und endete im November 1918 mit der Kapitulation Paul von Lettow-Vorbecks in Ostafrika faktisch, obwohl zu diesem Zeitpunkt kaum noch von einer Herrschaft die Rede sein konnte. Seine maximale Ausdehnung erreichte das Kolonialreich, dessen Schwerpunkt auf dem afrikanischen Kontinent lag, um 1900, als nicht nur noch zahlreiche Südseeinseln die afrikanischen Besitzungen ergänzten, sondern mit Kiautschou in China eine Marinebasis zu einer Musterkolonie ausgebaut wurde. Sie umfaßte ca. drei Millionen Quadratkilometer; davon entfiel fast eine Million auf Deutsch-Ostafrika.

Der Grundstein zum deutschen Kolonialreich wurde von Bismarck gelegt.

Dieser Umstand führt bis heute zu Diskussionen über Bismarcks Beweggründe, da dieser dem kolonialen Gedanken grundsätzlich nichts abgewinnen konnte. Bismarcks Skepsis gründete sich sowohl auf die militärische Lage des gerade neu geschaffenen Reiches als auch auf die zu erwartenden hohen Kosten überseeischer Kolonien, denen maximal Gewinne einzelner Handelskompanien gegenüberstehen würden; und schließlich hatte der Reichskanzler Befürchtungen wegen der innenpolitischen Konsequenzen.
Als es 1871 nach dem Sieg über Frankreich um mögliche Reparationsleistungen für Deutschland ging, wurde Bismarck auch auf die französischen Besitzungen in Indochina hingewiesen. Er lehnte mit dem Hinweis ab, daß dieser Besitz über Deutschlands Möglichkeiten läge. Man solle sich erst einmal um das Naheliegende kümmern. Kolonialbesitz wäre für Deutschland „genau so wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben“. Noch 1881 blieb er diesem Gedanken und seiner Konzentration auf Europa treu: „So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine Flotte, die nicht fahren kann, und wir dürfen keine verwundbaren Punkte in fernen Weltteilen haben, die den Franzosen als Beute zufallen, sobald es losgeht.“ Hinzu kam, daß Bismarck fürchtete, hinsichtlich des für die Kolonien notwendigen Etats vom Reichstag abhängig zu sein und sich so erpreßbar zu machen.

Wettlauf um Afrika

Doch im April 1884 stellte Bismarck die südwestafrikanischen Erwerbungen des Hamburger Kaufmannes Lüderitz unter den Schutz des Reiches, womit das erste deutsche Schutzgebiet errichtet worden war. Dem waren zahlreiche Versuche vorausgegangen, mittels Handelsgesellschaften private Kolonien zu errichten, die aber aufgrund der Konkurrenzsituation der europäischen Mächte insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent im Ernstfall nicht überlebensfähig waren. Daher wurden noch im selben Jahr mit Togoland und Kamerun weitere Gebiete in Westafrika zu deutschen Schutzgebieten erklärt. Deutschland beteiligte sich damit am Wettlauf um Afrika, der 1881 mit der französischen Besetzung Tunesiens erneut begonnen hatte, gefolgt von der Inbesitznahme Ägyptens durch die Briten und dem Vorstoß Italiens nach Eritrea.
Schon deutlich länger waren die Portugiesen in Afrika vertreten, die sich 1883 auch im Kongo festsetzten. Zentralafrika drohte zum Zankapfel zu werden, da hier auch Großbritannien, Frankreich und Belgien Ansprüche anmeldeten. Das führte schließlich zu einem genialen Schachzug Bismarcks, der im November 1884 nach Berlin zur Kongo-Konferenz einlud. Da Deutschland dort keine Ansprüche geltend machte, folgten die beteiligten Mächte der Einladung. Der belgische König Leopold II. ging als großer Sieger aus der Konferenz hervor, da er für seinen privaten Kongo-Freistaat Garantien bekam, die ihn vor den konkurrierenden, wesentlich stärkeren Mächten schützten. Für Bismarck wiederum bedeutete der Freistaat einen willkommenen Puffer zwischen den britischen, französischen und portugiesischen Anspruchsgebieten in Afrika, wodurch die Gefahr eines durchgehenden Kolonialgebietes gebannt war.
Während der Konferenz, die Ende Februar 1885 mit der Kongo-Akte beschlossen wurde, legte Bismarck den Hintergrund für seinen kolonialpolitischen Gesinnungswandel in einem Brief an den deutschen Botschafter in London offen: „Die öffentliche Meinung legt gegenwärtig in Deutschland ein so starkes Gewicht auf die Kolonialpolitik, daß die Stellung der Regierung im Innern von dem Gelingen derselben wesentlich abhängt.“ Kurz darauf, am 27. Februar 1885, legitimierte ein weiterer Schutzbrief die Besetzung ostafrikanischer Gebiete unter dem Namen Deutsch-Ostafrika. Damit waren die afrikanischen Erwerbungen abgeschlossen. Bismarcks Begeisterung für bzw. die Einsicht in die Notwendigkeit von Kolonien ließ noch im Laufe des Jahres 1885 nach. Der Kanzler klagte über die hohen Kosten durch den militärischen Schutz, die Verwaltung und den Aufbau einer Infrastruktur sowie den mangelnden Ertrag und wollte die Kolonien sogar wieder abstoßen. Entsprechende Angebote unterbreitete er Hamburg und Italien.

„Meine Karte von Afrika liegt in Europa.“

Wie ernst diese Angebote gemeint waren, ist umstritten. Allerdings fällt in diese Zeit auch seine bekannte Bemerkung von 1888 gegenüber einem Afrikaforscher: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika“. Da die geopolitische Lage Deutschlands und auch die koloniale Begeisterung seit 1884 unverändert geblieben waren, gibt Bismarcks Gesinnungswandel bis heute Anlaß zu Spekulationen. Das Ergebnis sind einige Thesen, von denen die „Sozialimperialismusthese“ am bekanntesten ist. Demnach habe Bismarck die Kolonien gebraucht, um von sozialen Konflikten im Reich abzulenken. Das ist nicht übermäßig plausibel, weil sich die soziale Lage 1885 nicht schlagartig geändert hatte. Die „Kronprinzenthese“ sieht in Bismarcks Handeln den Versuch, dem liberalen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dessen Thronbesteigung man damals aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes von Wilhelm I. jeden Tag erwartete, eine Verständigung mit England durch den kolonialpolitischen Gegensatz in Afrika unmöglich zu machen.

Als es 1914 ernst wurde, waren die Kolonien nicht zu halten.

Naheliegend dürfte eine Mischung verschiedener Motive sein, die Bismarcks Naturell entspricht, sich bietende Gelegenheiten beim Schopf zu packen oder diese möglichst selbst herbeizuführen. Neben der innenpolitischen Funktion, durch Kolonialerwerb Volksnähe zu beweisen und die Liberalen an sich zu binden, dürfte die geopolitische Lage Deutschlands der Hauptgrund für Bismarcks koloniales Engagement gewesen sein. Er wollte damit Frankreich von Elsaß-Lothringen ablenken und vielleicht sogar eine Verständigung herbeiführen sowie ähnlich wie die anderen Mächte die Möglichkeit kolonialer Kompensation zur Verfügung haben, wenn sich in Europa eine Pattsituation ergeben sollte. Günstig war die Situation 1884 zudem, weil die Engländer in Afghanistan und Ägypten gebunden waren.
Über den Wert von Kolonien hat sich Bismarck nie Illusionen gemacht, und die Geschichte hat ihm recht gegeben. Weder ging der Plan einer Siedlungskolonie zur Aufnahme der deutschen Auswanderungsströme in Deutsch-Südwest auf, noch konnte die Plantagenkolonie Deutsch-Ost jemals einen Gewinn abwerfen. Durch die Bekämpfung verschiedener Aufstände reihte sich Deutschland in die blutige Tradition europäischer Kolonialpraxis ein; und als es 1914 ernst wurde, waren die Kolonien nicht zu halten.

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