von Julian Bauer
Kein 1848er verstand es besser, Bodenhaftung und Intellekt zu verbinden. Zu Beginn Revolutionär und Bauernbefreier, am Ende Vertreter des Deutschen Schulvereins in Amerika: 200 Jahre Hans Kudlich geben Anlaß zu
einem – nicht unkritischen – Rückblick.
Er sollte letzten Endes alle 383 Abgeordneten des Reichstages überleben, dessen jüngster Angehöriger er gewesen war. Doch beginnen wir am Anfang. Hans Kudlich wurde 1823 in Lobenstein bei Jägerndorf (Krnov, heute Tschechien) als drittes von acht Kindern einer Bauernfamilie geboren. Arm waren sie darum nicht, im Gegenteil: Kudlichs Vater war Sprecher der örtlichen Bauern, die Familie war relativ wohlhabend – wie jedoch nahezu alle Bauern des Ortes. So konnte Hans auf das Troppauer Gymnasium geschickt werden, war dort Mitglied der Ferialverbindung Germania und Mitschüler von Gregor Mendel.
Nach Abschluß des Gymnasiums durfte Hans Kudlich mit Erlaubnis der Liechtensteinischen Herrschaft 1842 nach Wien, um zunächst Philosophie, dann Rechtswissenschaften zu studieren. Er gehörte auch hier zum Freundeskreis der Wiener Vormärzburschenschaft – nach 1848 wurde er Ehrenmitglied zahlreicher Burschenschaften (Germania III, Markomannia Prag, Arminia, Freya, Cheruskia und Eisen). Auf Vermittlung von Kudlichs Bruder Joseph Hermann gelangte Hans in die liberalen Kreise rund um den berühmten politisch-juridischen Wiener Leseverein, die sich um die Erringung einer Verfassung bemühten. Mitglieder der im Untergrund tätigen Burschenschaft Arminia trafen einander am 11. März 1848 in der Wohnung des Sprechers Fritsch und formulierten die berühmte Studentenpetition, welche am 12. März in der Aula der Wiener Universität verlesen wurde. Ihre Forderungen: Pressefreiheit, Redefreiheit, Lehr- und Lernfreiheit, Gleichstellung der Glaubensgemeinschaften – damals waren auch nicht wenige Juden Burschenschafter –, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverfahren, allgemeine Volksvertretung. Die Petition wurde von zwei Professoren bereits am nächsten Tag an den Kaiser überbracht. Dessen Ablehnung löste schließlich den Sturm der Studenten auf das niederösterreichische Landhaus in der Wiener Herrengasse aus.
Der Sturm auf das Landhaus war für Hans Kudlich der Beginn einer wahrlich revolutionären Karriere.
Gegen neun Uhr versammelten sich in der Herrengasse Studenten und Arbeiter, die in einem immer größer gewordenen Demonstrationszug beim Landhaus angekommen waren. Vom Bretterdach des Landhausbrunnens hielt der Liberale Adolf Fischhof seine berühmt gewordene Rede zur Pressefreiheit, nach ihm folgten weitere Redner. In der Menge stand auch Hans Kudlich, der nach eigener Aussage, im Gegensatz zu den meisten anderen, mit der Veranstaltung nicht zufrieden gewesen sei, da die Anliegen der Bauern nicht angesprochen worden wären. Aufgebracht soll er Richtung Landhausbrunnen gerufen haben: „Robot – Robot!“. Gegen Mittag war die Stimmung in der Menge vor dem Landhaus bereits gefährlich aufgeheizt; nachdem einige Demonstranten ins Landhaus eingedrungen waren, erhielt das Militär um 13 Uhr durch Erzherzog Albrecht den Schießbefehl. Es gab einige Tote und viele Verletzte. Hans Kudlich wurde selbst schwer verwundet, seine Hand von einem Bajonett durchdrungen. Am selben Abend trat Clemens Wenzel von Metternich zurück, und noch in der Nacht mußten die Kaiserfamilie und ihr Hof Hals über Kopf aus der Residenzstadt fliehen.
Abermals war es sein Bruder Joseph Hermann, der Hans beim nächsten entscheidenden Schritt half; Hermann, wie sein Rufname lautete, war inzwischen Abgeordneter zur Frankfurter Nationalversammlung geworden und half nun seinem jüngeren Bruder, sich für den Wiener Reichstag aufstellen zu lassen. Hans zog schließlich als jüngster Abgeordneter in den konstituierenden Reichstag ein, der am 22. Juli 1848 von Erzherzog Johann in Ermangelung eines entsprechenden Saales in der Spanischen Hofreitschule eröffnet wurde.
Am 24. Juli stellte Kudlich seinen berühmten Antrag zur Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit.
Der gerade einmal aus einem Satz bestehende Antrag wurde so freilich nicht angenommen, hätte doch die Aufhebung aller Rechte und Pflichten der Bauern zugleich den Verlust der existenziellen Weide- und Holzungsrechte bedeutet. Über den Punkt der Entschädigung wurde monatelang diskutiert; die Bauern forderten, ohne Entschädigungen leisten zu müssen, zu Eigentümern ihrer Scholle zu werden. Schließlich wurde am 31. August für den Antrag von Joseph von Lasser gestimmt, der im wesentlichen auf jenem Kudlichs beruhte. Mit der Bestätigung des Reichstagsbeschlusses durch Kaiser Ferdinand I. waren mit 9. September 1848 Grunduntertänigkeit und Robot in den österreichischen Landen abgeschafft.
Sozialgeschichtlich wird die Bauernbefreiung als der endgültige Durchbruch des neu entstandenen Bürgertums verstanden, hatte doch die Aufhebung der Untertänigkeit eine enorme Landflucht zur Folge. Zum einen konnten sich viele arme Bauern das Drittel Entschädigung für den Grund nicht leisten, zum anderen durften sie erstmals nach hunderten von Jahren überhaupt ihren Grund verlassen. Davor bestand im heutigen Österreich der Großteil der Gesellschaft, mehr als 90 Prozent, aus Bauern. Ebendiese Umstände hatten auch zur Folge, daß die Bauernschaft den Oktoberunruhen größtenteils fernblieb; ihre Forderungen waren schließlich erfüllt. Hans Kudlich zu Ehren gab es aus diesem Grund noch kurz vor Eskalation des Oktoberaufstandes einen großen Fackelzug von etwa 30.000 Bauern auf den Mehlmarkt in Wien. Dennoch war Kudlichs Bemühungen um einen Landsturm zum Schutz des Reichsrates kein Erfolg beschieden: Kaiser Ferdinand I. agierte persönlich mit einer gegen Kudlich gerichteten medialen „Fake-News“-Kampagne, wie man heute sagen würde. Sein Schicksal war damit besiegelt.
Kudlich mußte nach der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes und der Auflösung des Reichsrates in Kremsier durch Kaiser Franz Joseph I. aus dem Land flüchten.
Zunächst zog es Hans Kudlich nach Bern in die Schweiz, wo er in Mindestzeit Medizin studierte. Er fand Aufnahme im Haus des liberalen Professors Wilhelm Vogt und heiratete schließlich dessen Tochter. Doch kurz nach seiner Promotion 1853 mußte Kudlich auch die Schweiz verlassen; um der Auslieferung zu entgehen, segelte er wie unzählige andere 48er in die Vereinigten Staaten. Nach einigen Fehlversuchen hatte der Jungarzt schließlich im Ort Hoboken im heutigen New Jersey/New York mit einer eigenen Praxis Erfolg. Heute unvorstellbar, war Hoboken 1854 noch recht überschaubar, jedoch überwiegend deutsch.
Mit der Dezemberverfassung 1867 für Cisleithanien wurden schließlich all jene Rechte gewährt, für die Kudlich und seine 48er gekämpft hatten; sie ist heute noch Teil der Bundesverfassung. Dies und seine damit einhergehende Begnadigung verfolgte Kudlich in Amerika aufmerksam und beschloß zurückzukehren. Im April 1872 wurde er in Linz mit Begeisterung empfangen. Seine ihm kurz darauf in Wien verliehene Ehrenbürgerschaft wurde jedoch wieder sistiert, da er sich geweigert hatte, in seinen Reden ein Hoch auf den Kaiser auszusprechen. Auf der Weiterreise zu seinem Geburtsort hielt er Reden vor der Bauernschaft. Sein – wohl schon länger geplantes – politisches „Comeback“ mit der Idee einer großen liberalen Partei scheiterte letzten Endes. Kudlich war unfähig, sein Programm den geänderten politischen Verhältnissen und Realitäten der Donaumonarchie anzupassen. Verbittert publizierte er noch vor seiner Abreise 1873 seine Memoiren, die bis heute als einzigartige Quelle für die Revolution von 1848 dienen.
„Der Deutsche Schulverein ist eine Institution, wie sie kein anderes Volk der Welt aufzuweisen hat.“
So soll Kudlich gesagt haben, der sich nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten den Anliegen und Problemen der deutschen Auswanderer widmete. Diese Arbeit erfüllte die letzten Jahrzehnte seines Lebens, also noch geraume Zeit, denn Hans Kudlich starb im, erst recht seinerzeit, biblischen Alter von 94 Jahren, am 10. November 1917.