von Benedikt Kaiser
Dem 17. Juni 1953 kann man sich mit Geschichtsbüchern nähern, indem man die objektiven Fakten nachschlägt: geteiltes Restdeutschland, Aufbau des Sozialismus’ in der DDR, Normerhöhungen, gärende Wut unter Arbeitern, Rücknahme der Erhöhungen, dennoch Arbeiterproteste, sowjetische Panzer, Zementierung der Macht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED). Man kann aber auch zu einem bestimmten Roman greifen, der die Geschehnisse an diesem deutschen Schicksalstag verarbeitet.
Erich Loest: Chronist des Volksaufstandes
Wählt man diesen Zugang, greift man unbedingt zu Sommergewitter von Erich Loest (1926 – 2013). Für den Romancier war der 17. Juni 1953 eine persönliche Zäsur: Ab diesem Zeitpunkt entfremdete er sich den Herrschenden – und diese entfremdeten sich ihm, was einige Jahre vorher nicht absehbar war. Erich Loest wurde 1926 im mittelsächsischen Mittweida geboren, meisterte 1944 sein Abitur, wurde eingezogen und erlebte das Kriegsende als designierter „Werwolf“, was aufgrund der allgemeinen Auflösungserscheinungen nicht mehr von Bedeutung war. Von 1947 an arbeitete er als Volontär und Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Er verließ das Blatt 1950, um sich als freier Schriftsteller zu versuchen. Loest positionierte sich für einen Sozialismus mit volkstümlichem Antlitz und wurde infolgedessen erst von der Stasi überwacht, dann aus Schriftstellerverband sowie Partei ausgeschlossen, wegen seines Festhaltens an Erneuerungsforderungen verhaftet und als „englischer Agent“ zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Diese saß er bis 1964 im „Gelbes Elend“ genannten Horrorknast in Bautzen ab. Erst danach wurde dem Geschundenen als Nische angeboten, Kriminalromane zu verfassen. Loest lebte fortan unter dem politischen Radar und produzierte Unterhaltungsliteratur am Fließband. 1981 ging er in die BRD, um einem drohenden weiteren Prozeß zu entgehen. Er gab sein Leipzig auf, wohin er nach dem Zusammenbruch der DDR 1990 umgehend wieder übersiedelte: „Ich ging von Deutschland nach Deutschland. Ich blieb im deutschen Sprachraum, im Kulturraum, im Geschichtsraum.“ Auch das bis heute gültige Faktum, wonach das Volksbewußtsein im Osten der nunmehr vergrößerten BRD höher zu veranschlagen sei als im Westen, bemerkt Loest, wenn er hervorhebt, daß die Zugehörigkeit zu Deutschland bei der ostdeutschen Bevölkerung „wacher“ sei, das Bewußtsein, „daß es ein Volk ist, daß es eine Sprache ist, eine Nation ist“. Loest wußte das zeitlebens, und dieses Bewußtsein realisiert man in besagtem Sommergewitter (2005).
Sommergewitter
Loest schreibt keine objektive Geschichte, er skizziert vielmehr verschiedene Einzelschicksale, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine begehrt am 17. Juni 1953 gegen sowjetische Truppen und SED-Herrschaft auf, der andere ist gleichgültig, der nächste wird zum Spielball und verliert die Kontrolle. Das alles findet statt in jenen Frühsommertagen 1953, als die SED-Führung nicht wußte, ob der Aufbau des Sozialismus’ radikaler oder vorsichtiger, umfassender oder kleinteiliger zu erfolgen hätte. Ganz zu schweigen von einer Schlüsselfrage, die den selbsternannten Arbeiterstaat DDR von seinen Arbeitern trennte: Normerhöhungen und Produktivitätssteigerungen um jeden Preis oder behutsame Langzeitperspektiven? Loest gibt daher im Roman diese internen, real existierenden Diskussionen der damaligen SED-Verantwortlichen wieder, die überschattet wurden von Volksprotesten. Nicht zuletzt macht Loest die divergierenden deutsch-deutschen Perspektiven auf diese klar: In der Westberichterstattung „jubelte“ das demon-strierende Volk über seinen Mut, in der Ostberichterstattung „johlte“ es und schlug Krawall.
So war und ist es bei doktrinären Antifaschisten: Ist der „Faschist“ offen „Faschist“, ist er schamlos. Entspricht der „Faschist“ nicht den vorausgesetzten Stereotypen, verstellt er sich.
Erich Loest ist es dabei ein Vergnügen, die SED-Apparatschiks und ihre bewaffneten Organe vorzuführen. Intern beratschlagt man sich: „Wenn es Widerstand gibt?“ „Eins auf die Pfoten.“ Loest vermerkt: „Zustimmendes Nicken wie erwartet.“ Einer der SED-Akteure zieht den schon damals stechenden „Rechtsradikalismusjoker“ gegen die am 17. Juni vor allem in Ostberlin anschwellende Demonstrantenmasse: „Die haben das Deutschlandlied gesungen.“ Sein Genosse, zufrieden ob der neuen Klarheit bezüglich des Charakters des Feindes: „Das Horst-Wessel-Lied auch?“ Doch das wird verneint. Also wird entschieden: „Genossen, auch das deutet auf Koordinierung hin. Die Blöße des offenen Faschismus’ wollen sich die Schufte nicht geben.“ So war und ist es bei doktrinären Antifaschisten: Ist der „Faschist“ offen „Faschist“, ist er schamlos. Entspricht der „Faschist“ nicht den vorausgesetzten Stereotypen, verstellt er sich. Worüber Loest sich hier literarisch zu amüsieren scheint, war damals, in der Realität von 1953, nicht zum Lachen. Unter Verdacht zu geraten, ein „Faschist“ zu sein, konnte damals die Existenzvernichtung bedeuten: Kamen nationale und soziale Fragen in der Argumentation zusammen, riskierte man sein Leben.
Arbeiterrebellion
Für hunderttausende Demonstranten war indes die deutsche Frage nicht der Hauptantrieb, sich zu erheben: Das primäre Motiv fand sich in harten materiellen und sozialen Lebensfragen vergegenständlicht. Aber die Sehnsucht nach der deutschen Einheit kam eben als Leidenschaftsthema dazu. Der spätere neurechte Publizist Wolfgang Strauss (1931–2014), der wie Loest in Bautzen einsaß und vorher in der UdSSR hatte Zwangsarbeit verrichten müssen, brachte es in seiner Studie Aufstand für Deutschland (1982) so auf den Punkt: „Die nationale Motivation – Wiedervereinigung! – verlieh den sozial-ökonomischen Motiven eine beispiellose Offensichtwucht.“ Denn insbesondere die Arbeiterschicht fühlte sich ausgepreßt und in den Sklavenstand geschoben – ausgerechnet sie, die die stolzen Bannerträger des neuen Staates sein sollte! „Die Arbeiter“, so schreibt Strauss, „hatten keinen Dichter und keinen Philosophen auf ihrer Barrikadenseite. Die mit nackten Fäusten auf russische Panzer sprangen, waren keine Intellektuellen. Es war eine Erhebung ohne die Intelligenzija.“ Schon ab dem 11. Juni griffen die Arbeiter zum Streik als Kampfmittel. Bis zum 15. Juni gab es bereits 60 Streiks landesweit, am 16. und 17. Juni spitzte sich die Situation zu. In mehr als 700 Orten und Städten gingen Deutsche auf die Straßen.
Die Demonstranten forderten bald neben der Rücknahme der Erhöhung von Normen und Arbeitsleistungen auch freie Wahlen, Freiheit für alle politischen Gefangenen und einen einheitlichen deutschen Staat.
Bis zu einer Million Menschen waren insgesamt in die Geschehnisse verwickelt, die von Weststellen – allen voran dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, RIAS – massiv angeheizt wurden, ohne daß konkrete Hilfe für die Protestierer geopolitisch erwünscht war. Eingebettet in die Konkurrenzsituation des Kalten Krieges zwischen Ost- und Westblock konnte der Arbeiter- bzw. Volksaufstand keine eigenen Perspektiven besitzen, die über ein symbolpolitisches Aufbegehren gegen einen übermächtigen Besatzer, 600.000 Soldaten der Sowjetunion auf DDR-Boden, und seine Vasallen, den SED-Apparat, hinausgingen. Was folgte, war so brutal wie effizient: In 167 von 217 Landkreisen der DDR verhängten die Besatzer den Ausnahmezustand und verkündeten das Kriegsrecht. Der Aufstand wurde rasch niedergeschlagen, 50 Menschen kamen zu Tode, 15.000 wurden verhaftet. DDR-Stellen gaben naturgemäß deutlich geringere Zahlen an als eine Million; man rechnete den Aufstand auch quantitativ herunter. Der in Breslau geborene Kommunist Günther Hillmann räumte hingegen immerhin ein, daß bis zu 400.000 DDR-Deutsche auf die Straße getrieben worden waren. Er verwies sogar auf die „explosive Wucht revolutionärer Erhebung“. Doch ohne Hilfe von außen blieb diese Erhebung Stückwerk. Strauss final: „Der Aufstand mußte scheitern, da die von den Siegern in Jalta und Potsdam festgelegten Machtbereiche sich nicht ändern durften. Der Ruf nach Freiheit verhallte ungehört.“