Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Nicht das Prager Jesulein, sondern unser Autor bei der wohlverdienten Rast

Prag, ein ominöses Fenster und ein besonderes Jesulein

von Ronald Schwarzer, Impresario, Waldgänger & Partisan der Schönheit

Die Überlandpartie

Vor vielen Jahren wollte ich im Laden des Strahov-Klosters ein paar Postkarten kaufen und wandte mich auf Deutsch an die ältere, sehr distinguierte Dame hinter dem Verkaufspult. Sie antwortete mir in lupenreinem Deutsch: „Bitte sprechen Sie Englisch, ich kann nicht Deutsch!“ Dies hat sich nun geändert, denn jetzt können sie es in Prag wirklich nicht mehr und böhmakeln nun auf Englisch gerade so wie einst auf Deutsch. Ja, sie können die Hauptsprache des
einstigen großen Vaterlandes wirklich nicht mehr, und Österreich hat es nach der Wende sträflich verabsäumt, zum Beispiel durch ein „Grillparzer-Institut“ die Muttersprache unseres größten Dichters in böhmischen Landen nicht ganz vergessen zu machen. Überhaupt sind die Verbindungen zum alten Österreich abgeschnitten, obwohl – oder vielleicht gerade –, weil jeder Wiener eine böhmische Großmutter hat. Während man in Ungarn, Oberitalien oder Kroatien von milder Habsburgnostalgie umweht wird, pfeift einem in der einst deutschen Stadt Prag der scharfe Wind geldgeilen Massentourismus’ um die Ohren, angefacht von Angelsachsen jeder Sorte. Denn Österreicher besuchen die wahrscheinlich schönste Stadt nördlich der Alpen recht selten. Uns zieht es heute an die Strände der Adria oder die Partymeile von Budapest. So ist die einst lange gemeinsame Geschichte heute so vorbei, daß einem Deutsch-Österreicher nicht einmal das Ressentiment der Tschechen entgegenschlägt. Wohl regt sich in der böhmisch-mährischen Provinz gelegentlich das zarte Pflänzchen Hoffnung, und mancherorts werden Kaiser-Franz-Josef-Büsten enthüllt, wo nie welche waren. Das goldene Prag aber ist für das k.u.k-Gedenken noch immer Wüstenei.
Gerade weil hier über sieben Jahrhunderte Deutsche und Tschechen dicht an dicht miteinander lebten, haben die Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts im Taumel der neuen Mode des Nationalismus’ tiefe Gräben hinterlassen. Dabei erwuchsen viele feindselige Emotionen einem fundamentalen Mißverständnis, das sich ergibt, wenn man die Folie nationalen Denkens des 19. Jahrhunderts auf das Ancien Régime legt.

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Da liest man dann vom tschechisch inspirierten Aufstand der böhmischen protestantischen Stände gegen das Regime des deutschen katholischen Königs beim Prager Fen-stersturz 1618 und übersieht, daß die defenestrierten königlichen Stadthalter, die Grafen Slavata und Martinic, tschechischer Zunge waren. Ihr Sekretär Fabricius, der ihnen hinterhergeworfen wurde, war freilich Deutscher und Enkelsohn des prote-stantischen Dichters Georg Fabricius. Der kaiserliche Sekretär erhielt nach diesem unangenehmen Erlebnis aus mildtätiger Huld des Kaisers das neue Adelsprädikat „von Hohenfall“. Die „tschechischen“ Rebellen wiederum kommandierte der deutsche Graf Heinrich Matthias von Thurn. Das Terrorkommando stürmte die Ratsstube in eindeutiger Tötungsabsicht, da der freie Fall aus gut 15 Metern Höhe wohl kaum zu überleben wäre. Allein die drei Herren überstanden den Sturz relativ unbeschadet, was bis heute rätselhaft bleibt. Erst meinten protestantische Propagandisten den Umstand einem Misthaufen vor dem Fenster zuzuschreiben, der den Fall linderte. Noch heute freilich kann sich jeder davon überzeugen, daß die Hochverwaltung sich wohl kaum einen Misthaufen mit all den olfaktorischen Implikationen just vor dem Fenster gefallen ließe, noch dazu, da ein derartiger Misthaufen, um von so großer Höhe Stürzende im warmen Dung aufzunehmen, von beträchtlicher Höhe hätte gewesen sein müssen. So wird diese Theorie heute verworfen. Nun führt man ins Treffen, daß die Herren gemäß der Mode der Zeit in sehr weite wallende Mäntel gehüllt waren, die nun gleich einem Fallschirm den Sturz abfingen. Ich möchte niemandem raten, diese Möglichkeit im Selbstversuch zu ergründen; dieser Ansatz ist zudem schon deswegen Unsinn, weil gewiß niemand an einem 23. Mai im weiten Fallschirmmantel in seinem Bureau sitzt.

Graf Slavata hat in seinen Erinnerungen von jenem denkwürdigen Ereignis Zeugnis gegeben: Kollege Martinic kam unbeschadet am Boden auf, während er selbst sich den Kopf an einem vorkragenden Gesims stieß und dann doch etwas beschädigt aufschlug. Graf Slavata bekennt, daß sie unter dem beständigen Stoßgebet „Jesus, Maria“ den Schutz Gottes gefühlt und sich gleichsam vom Mantel der Jungfrau Maria in den Lüften gehalten gewußt hätten. Selbst einer der Aufrührer, der Ritter Ulrich Kinsky, der ihnen hohnvoll „Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird“ nachgerufen hatte, bekehrte sich, als er sie gesund auf der Erde sitzen sah und rief aus: „Ich schwöre zu Gott, daß ihm seine Maria geholfen hat!“

Alle drei jedenfalls vermochten vor den Kugeln der ihnen nachfeuernden Mordbuben in das Palais Lobkowicz zu flüchten. Dort empfing sie Fürstin Polyxena aus dem mährisch-böhmischen Geschlechte der Herren von Pernstein. Ihre Mutter war die einstige Hofdame der Kaiserin Maria, der ältesten Tochter von Kaiser Karl V. und Gemahlin von Kaiser Maximilian II. Jene María Maximiliana Manrique de Lara y Briceño hatte ihren Gemahl Vratislav von Pernstein gelegentlich der Hochzeit König Philipps II. mit Maria Tudor von England kennengelernt. Als Hochzeitsgeschenk nahm sie eine 47 cm hohe Wachsfigur des Jesuleins mit, die einst im Besitz der Heiligen Teresa von Ávila gewesen sein soll.

Eben diese spanische Figur ehrt heute die katholische Welt als das „Prager Jesulein“, das dieselbe Polyxena Lobkowicz, die den kaiserlichen Räten Zuflucht gewährt hatte, dem Kloster der Karmeliten auf der Prager Kleinseite übergab. Sehr bald schon verbreitete sich die allgemeine Verehrung des Gnadenbildes, in dem sich unser Herr Jesus Christus in der Unschuld des Kindes zeigt, und sehr bald wurden ihm viele Gebetserhörungen und Wunder zugeschrieben. Besonders die kaiserliche Familie pilgerte regelmäßig zum Prager Jesulein, und Kaiserin Maria Theresia schnitt aus ihrem Krönungsmantel den Stoff für ein Kleid des Prager Kindls, daß sie eigenhändig bestickte. An die 200 solcher Roben hat das Kindl heute, und im angeschlossenen Museum kann man diese bewundern. Seit einiger Zeit soll es in seinem roten Königsmantel in Sievernich nahe Aachen erscheinen und zu Buße und Bekehrung aufrufen.

Die Kirche des Karmelitenklosters ist Maria vom Siege geweiht, deren Fest am 8. November wiederum den Triumph der Himmelskönigin bei der Schlacht am Weißen Berg, gegen das Ketzerheer feiert. Die Kirche bewahrt auch die Kopie eines kleinen mittelalterlichen Bildes der Mutter Gottes, dessen Original sich heute in Santa Maria della Vittoria in Rom befindet. Einst war dieses in der Kirche des südböhmischen Städtchens Strakonitz, das sonst nur als Hauptproduktionsstätte der orientalischen Kopfbedek-kung, des Fes’, für das gesamte ottomanische Reich von Bedeutung war. Doch als die Reformierten in Böhmen wüteten, bemächtigten sie sich des kleinen Marienbildes und tobten ihre Wut gegen die Gottesmutter aus, indem sie dem Antlitz die Augen ausstachen. Das so geschändete Bild gelangte in die Hand des Ordensgenerals der Karmeliten Dominicus a Jesu Maria, dessen Portrait uns Peter Paul Rubens überliefert hat. Als machtvoller Prediger zog der große Gegenreformator mit den Truppen der katholischen Liga am 8. November 1620 in die Schlacht am Weißen Berg und in brennender Rede stachelte er die Kampfwut der Katholiken an und zeigte ihnen das schmählich verstümmelte Heiligenbild.

Mit so großer Aufwallung der Gefühle im Glaubenskampf ist es heute auch vorbei, nicht aber mit der Strahlkraft jener kleinen Wachsfigur, die als Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches angesehen wurde. Mit einem Freund kniete ich kürzlich vor seinem Altar, und wir beteten zusammen den Rosenkranz vom Prager Kindl auf Latein. Als wir die Kirche verließen, sprach uns ein kerniger US-Amerikaner an, dieweilen auch er Latein als Sprache des Gebetes vorzieht. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er die USA verlassen, um zu den heiligen Stätten nach Rom zu pilgern und extra nur für einen Tag nach Prag zu kommen, um dem Prager Jesulein seine Verehrung zu erweisen.
Bis Kansas reicht sein Ruf!

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