von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (51)
Vor 100 Jahren, am 29. Dezember 1924, starb Carl Spitteler, der 1919 als erster Schweizer den Literaturnobelpreis erhalten hat. Dennoch kennt ihn heute fast niemand mehr. Dies ist Grund genug, an ihn zu erinnern.
Spitteler, am 24. April 1845 in Liestal nahe Basel geboren, verfaßte Novellen, Romane und dichtete: so etwa sein großes Versepos Olympischer Frühling, das rund 20.000 Verse in Alexandrinerreimen umfaßt und Figuren sowie Handlungen aus der griechischen Mythologie zum Gegenstand hat. Diese überaus anspruchsvolle Kost war allerdings für die breite Masse ungeeignet, und da dies heutzutage erst recht so ist, wird Spitteler kaum noch gelesen.
Trotz der schweren Lesbarkeit von Spittelers Texten brachte ihn 1912 der Berner Privatdozent Jonas Fränkel als Kandidaten für den Literaturnobelpreis ins Spiel. Sogleich zum Zirkel der Favoriten zählend dauerte es jedoch noch acht Jahre, ehe Carl Spitteler den Nobelpreis erhielt. Es brauchte auch deshalb so lange, weil der seit 1893 durch eine Erbschaft unabhängige freie Schriftsteller 1914 in seiner Streitrede „Unser Schweizer Standpunkt“ seine Meinung zur Politik geäußert hatte: In ihr hatte er sich gegen die Sympathie zahlreicher Schweizer für Deutschland gewandt und für die Eidgenossenschaft eine neutrale Haltung im Ersten Weltkrieg eingefordert. Das löste im Deutschen Reich einen Sturm der Empörung aus und ließ Spitteler bis nach Ende des Ersten Weltkrieges dem Vorsitzenden des Nobelpreiskomitees, dem schwedischen Geschichtsprofessor Harald Hjärne, nicht als geeigneter Kandidat für den Nobelpreis erscheinen.
Doch dann fand das Komitee eine Lösung – indem statt des schriftstellerischen Gesamtwerkes ein „einzelnes bedeutendes Werk“ prämiert werden sollte. Carl Spitteler profitierte als erster von dieser Regelung und nahm 1920 für seinen Olympischen Frühling rückwirkend für 1919 den Nobelpreis entgegen, wobei er Hugo von Hofmannsthal vorgezogen wurde. Der Nobelpreis für Literatur war für Spitteler noch einmal eine andere Dimension als die Ehrendoktorwürde der Universitäten Zürich (1905) und Lausanne (1915) oder der Große Schillerpreis, den ihm die Schweizerische Schillerstiftung 1920 verlieh. Carl Spittelers Leben, das er fast völlig der Dichtung gewidmet hatte, endete kurz vor Ablauf des Jahres 1924. Seine letzte Ruhestätte fand der Ehrenbürger der Stadt Luzern auf dem dortigen Friedhof Friedenthal.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.