von M.M.
In den Jahren 1914 und 1915 fanden in der westgalizischen Karpatenregion – heute zu Polen gehörig und nördlich der Grenze zur Slowakei gelegen – verlustreiche Schlachten zwischen der österreichisch-ungarischen k.u.k. Armee und dem russischen Heer statt, wobei die Russen schließlich mit massiver Unterstützung des wilhelminischen Reiches wieder zurückgedrängt werden konnten. Auf vielen Schlachtfeldern ließen damals in einem ca. 10.000 km2 großen Gebiet, mithin etwa halb so groß wie Niederösterreich, über 60.000 Soldaten ihr Leben.
Wie in anderen Ländern machte es sich die Habsburgermonarchie danach mittels ihres Kriegsministeriums zur Aufgabe, würdige Soldatenfriedhöfe zu errichten und setzte dazu die sogenannte „Kriegsgräberabteilung“ in Krakau ein. Gut ausgestattet mit ca. 3.000 Mitarbeitern, zusammengesetzt aus einem Führungsstab mit zwölf Architekten und einigen Künstlern sowie mit einer effektiven Bauabteilung, bestehend aus fachkompetenten Handwerkern und Hilfskräften – letztere großteils rekrutiert aus kriegsgefangenen Russen und Italienern – konnten zwischen 1916 und 1918 über 400 Soldatenfriedhöfe unterschiedlichster Ausprägung realisiert werden. Im Jahre 1918 erschien dazu unter Federführung von Major Rudolf Broch in Wien die aufwändig gestaltete Publikation Die westgalizischen Heldengräber aus den Jahren des Weltkrieges 1914-1915.
Einzigartig und in ihrer Form von gesamteuropäisch kunsthistorischer Bedeutung sind dabei die 32 von Architekt Dušan Jurkovič gestalteten Friedhöfe in den Niederen Beskiden, in den Ausläufern des Karpatenbogens. Der Slowake Dušan Samo Jurkovič (1868-1947), eine der führenden Architektenpersönlichkeiten der Tschechoslowakei in der ersten Hälfte des 20. Jh., erhielt seine technische Grundausbildung an der Wiener Staatsgewerbeschule und erwarb sich danach autodidaktisch die Befähigung für die Ausübung des Architektenberufes. Nach der Jahrhundertwende reüssierte er erstmals vor einer breiten Öffentlichkeit durch seine Bauten in Mähren, wie zum Beispiel mit seinem eigenen Wohnhaus in Brünn oder mit den außergewöhnlichen Hotel- und Bäderbauten in Bad Luhačovice, welche vom Jugendstil und von der englischen Arts and Crafts-Bewegung in Verbindung mit Elementen aus der Volksarchitektur geprägt sind. Um 1910 beschäftigte er sich mit Restaurierungen und Schloßumbauten wie Nove Mesto nad Metuji.
Dušan Jurkovič: herausragende Baudenkmäler in den Ausläufern des Karpatenbogens
Am Beginn des Ersten Weltkrieges stand Jurkovič im Zenit seiner Schaffenskraft und wandte sich nach einer beruflichen Flaute mit voller Energie seiner neuen Aufgabe als einer der Architekten – tituliert als Landsturmingenieur – der k.u.k. Kriegsgräberabteilung zu. Neben ihm waren dort z.B. zwei Schüler von Otto Wagner (Hans Mayr und Gustav Roßmann) tätig, wobei Jurkovič durch die Originalität und den Regionalismus seiner Entwürfe und Bauten bei gleichzeitiger Beherrschung der klassischen Architektursprache sowie mit seiner genauen Kenntnis der Symbolik und Ikonographie im Sakralbau eine absolute Sonderstellung einnahm. Das Faszinierende an seinen Friedhofsbauten liegt in der mit großem Feingefühl praktizierten Verbindung archaisch-primitiver Bauteile mit raffiniert verfeinerten Gestaltungselementen.
Nach Kriegsende und nach dem Zusammenbruch der Monarchie übersiedelte Jurkovič nach Preßburg und setzte seine berufliche Karriere in der neu entstandenen Tschechoslowakei fort. Neben Profanbauten beschäftigte er sich weiterhin mit Friedhofs- und Denkmalarchitektur und konnte u.a. auf dem Berg Bradlo das imposante Grabmonument für den slowakischen Nationalhelden General Stefanik umsetzen. Jurkovič ist auf dem speziellen Tätigkeitsfeld der Sepulkral- und Denkmalarchitektur auf europäischer Ebene in einer Liga mit prominenten Zeitgenossen einzuordnen, etwa mit dem britischen Architekten Sir Edwin Lutyens, der zahlreiche Soldatenfriedhöfe an der Westfront entwarf, mit Josef Plečnik in Slowenien und mit dem schwedischen Architekten Sigurd Lewerentz. Vor die Beschreibung der galizischen Soldatenfriedhöfe möchte ich die bezeichnende Aussage von Adolf Loos aus dem Jahre 1910 stellen:
„Nur ein ganz kleiner Teil der Architektur gehört der Kunst an: das Grabmal und das Denkmal. Alles was einem Zweck dient, ist aus dem Reiche der Kunst auszuschließen“.
Auf die Friedhöfe von Jurkovič trifft diese Feststellung zu! Jurkovič wählte bewußt den Landkreis Zmigród nördlich der heutigen Grenze der Slowakei zu Polen für seine Tätigkeit aus, da sich dort das Siedlungsgebiet der ruthenischen Lemken befand, welches hinsichtlich der traditionellen Volks- und Holzarchitektur besonders interessant war. Die heute nach Vertreibungen und großflächigen Bevölkerungsumschichtungen weit verstreute lemkische Volksgruppe war hauptsächlich der griechisch-katholischen Konfession anhängig und hatte einen ganz eigenständigen Holzkirchentypus entwickelt. Wie schon seit Beginn seiner Berufslaufbahn studierte und dokumentierte Jurkovič die regionale Volksarchitektur gründlich und bezog daraus wesentliche Inspirationen für sein eigenes Werk.
Jurkovič selbst berichtet in seinen Aufzeichnungen: Bei der Aufteilung der Landkreise wollte keiner in die Grenzkarpaten gehen, und ich ließ mir das Bergland von Gorlica über Jaslo bis Dukla zuteilen. Bei meiner ersten Reise durch dieses Gebiet war ich über die mir zugeteilte Aufgabe hoch erfreut, (…) ich war frei bei der Wahl des Ortes, bei der Wahl des Materials und hatte die Möglichkeit zu experimentieren. Ich lernte, im Terrain zu arbeiten, meine Objekte hier einzubetten, sie in die Natur zu situieren und den Maßstab des gegebenen Rahmens und der Umgebung einzuschätzen. Im Zusammenwachsen mit dem Boden und der Erde suchte ich die ewige und unvergängliche Harmonie und Schönheit, obwohl nur in Werken, die leicht vergänglich sind, die dennoch nicht bloße Tagesmode sein wollen. (…) einige Friedhöfe gliedern sich an Ortskirchen an, sonst wählte ich jedoch abgelegene Anhöhen, steile Hänge, hauptsächlich jedoch Orte, wo sich die heftigsten Kämpfe abgespielt haben, aus. Als meine Kollegen Parks anlegten, die Wege mit Sand ausschütteten, Sträucher und Blumenbeete pflanzten, war ich entschieden, meinen kleinen Friedhof in die natürlichen Reize und die wilde Schönheit der Karpatenhänge zu setzen, so als ob ihn da die unsichtbaren Hände der einheimischen Volkstradition erbaut hätten…
Kleine Friedhöfe in der wilden Schönheit der Karpatenhänge
Alle 32 Friedhofsanlagen sind in ihrer Geometrie in einer großen Variation regelhaft und meist mit Ordnung gebender Symmetrieachse eckig, polygonal oder rund angelegt und jeweils sorgfältig in die natürliche Topographie und Bepflanzung eingebettet. In der Materialität der Friedhofsbauten greift der Architekt auf örtlich vorhandenes Baumaterial, meist Naturstein und bevorzugt auch auf Holz zurück und berücksichtigt dabei auch die vorhandenen handwerklichen Fähigkeiten seiner zugeteilten Arbeitskräfte (oft kriegsgefangene Russen als Zimmerleute und Italiener als Steinmaurer). Zitat Jurkovič: Daß ich in erster Reihe Holz als Baumaterial ausgewählt habe, ist mehr als natürlich. Im ganzen Gebirge haben die Truppen bei den Kämpfen die Wälder gefällt, und dieses Holz wegzubringen und zu bearbeiten war ein Teil meiner Aufgabe. Nach der Ankunft der italienischen Gefangenen, unter denen sich viele ausgezeichnete Steinmetze und Bildhauer befanden, nach Galizien, habe ich jedoch auch zum Steinmaterial gegriffen.
Besonderes Augenmerk wird auf die Einfriedungen und Zugänge gelegt – Stützmauern, hölzerne Zäune, Schindeldächer und Portale grenzen die inneren Bereiche, die eine gewisse Größe nie überschreiten, von der Umgebung ab. Dadurch bleibt eine Intimität und Maßstäblichkeit erhalten wie bei alten Dorffriedhöfen. Im Inneren der Friedhöfe gibt es immer ein sakrales Hauptdenkmal als Dominante – eine Kapelle oder eine Kapellengruppe, Hochkreuze oder kreuzbekrönte Spitztürme, eine zentrale Giebelwand, Türme, Pylone oder sarkophagförmige Denkmäler, manchmal einen Rundtempel. Die Einzel- und Massengräber – immer österreichische und gegnerische russische Soldaten gruppenweise aufgeteilt, aber innerhalb eines Friedhofs vereint – sind in regelhafter Weise in Einzel- und Reihenform angeordnet. Genauso wie der Architekt für die Hauptdenkmäler eine ganze Serie von eigenen typologischen Entwürfen verwendete, gestaltete er mit gleicher Sorgfalt und Differenzierung die Einzelgräber in verschiedenen Formen mit konfessionell unterschiedlichen Kreuzarten – aus Holz oder Stein. Handwerkliche Detailgestaltung, Farbigkeit, ikonographische Zusammenhänge bei der Ausschmückung und die Sinnfälligkeit bei der Beschriftung hatten bei der Konzeption der einzelnen Friedhöfe eine große Bedeutung.
Exemplarisch könnte man besonders prägnante Beispiele herausgreifen:
Rotunda – kreisrund ummauerte Anlage auf einer Bergspitze mit fünf kreuzbekrönten Turmspitzen
Gladyszow – rechteckige Anlage mit massiver, archaisch anmutender Rundholzeinfriedung, zentralem Kreuzturm und bemalten Holzkreuzen bei den Einzelgräbern
Magura – zwölfeckig/polygonaler Friedhof in Hanglage mit monumentaler hölzerner Fünf-Kreuze-Giebelwand und integriertem Madonnenbild von Czestochowa, direkt anschließend an noch vorhandene Schützengräben
Wirchne – rechteckige Anlage in Hanglage mit steinerner Umfriedung und kreuzbekröntem Mauergiebel am oberen Rand
Luzna Pustki – 25 Meter hohe hölzerne Turmkapelle am Endpunkt einer monumentalen Treppe inmitten fächerförmig aufgeteilter Grabfelder auf dem ehemaligen Schlachtfeld.
Wola Cieklinska – terrassierte Anlage, bestehend aus zwei einander überschneidenden Steinkreisen mit klassischen Bauelementen wie Bogen, Pylone und Tholos
Einzigartiger archaisch-rauher Charakter statt kalter Monotonie und rigider Einheitlichkeit
Insgesamt zeigt sich bei den Friedhöfen von Jurkovič eine große Vielfalt und Variationsbreite unter Verwendung von immer wiederkehrenden Einzelelementen, dazu eine frappierende Maßstäblichkeit und Einfügung in die Umgebung. Die bevorzugte Verwendung von Holz als Baumaterial in diesem Bereich der Architektur und der teilweise archaisch-rauhe Charakter der Anlagen sind einzigartig und unterscheiden sie prägnant von vergleichbaren Soldatenfriedhöfen, die oft von kalter Monotonie und rigider Einheitlichkeit gekennzeichnet sind. Welch ein Unterschied zum Beispiel zu den pompösen „Sacrari Militari“ – monumentalen Beinhäusern – welche die Faschisten in Italien und Südtirol in den Jahren 1926-39 errichten ließen.
Nach über 100 Jahren Bestand hat der Zahn der Zeit an den Friedhöfen genagt, dabei war oft die erforderliche Pflege und Erneuerung des vergänglichen Baumaterials Holz ein Problemfeld. Ebenso war die Sympathie seitens des polnischen Staates für diese finalen Relikte aus der Habsburgerzeit als Werke von „deutschem Geschmack und Geist“ nur beschränkt vorhanden. Manche Anlagen sind ganz verschwunden, andere ruinös und teilweise devastiert. Seit den 1990er-Jahren gibt es ein wachsendes Verständnis und verstärkte Bemühungen – auch mit österreichischer Unterstützung –, die Friedhofsanlagen unbedingt für die Nachwelt zu erhalten und zu restaurieren. Nach einzelnen Verlusten der Originalsubstanz wurden sogar gelungene Rekonstruktionen an Ort und Stelle durchgeführt. Die zeit- und architekturgeschichtliche Bedeutung dieser Friedhöfe ist evident.