von Benedikt Kaiser
Im Osten baute man anders – mit Folgen bis heute. Vorurteile bezüglich der Architektur der ehemaligen DDR, des heutigen Ostdeutschlands, gibt es zuhauf: Plattenbauten, graue Tristesse, bröckelnde Altbaufassaden, eintönige Trabantenstädte und standardisiertes Wohnen – Schlagwörter, die genügen mögen, um den Vorurteilen und oft auch Vorverurteilungen eine klare Tendenz zu verleihen. An Vorurteilen ist oft etwas dran. Aber sie sind, wie immer, wenn auch Ressentiment ins Spiel kommt, nicht ausreichend, um ein Phänomen zu beschreiben und historisch korrekt einzuordnen. So verhält es sich auch mit der SBZ- und DDR-Architektur im Zeitraum von 1946 bis 1990, die – trotz aller Wandlungen der Städte und Gemeinden zuletzt – noch heute das Gesicht des Ostens prägt. Der Osten baute zwar deutlich anders als der Westen, den man heute oftmals als die „Norm“, als das „Normale“ mithin, betrachten mag, von dem die DDR-Kader abwichen. Der Osten tat dies aus ideologischen, monetären und bevölkerungspolitischen Gründen. Doch schuf auch er bleibende architektonische Besonderheiten, die nach objektiven Kriterien nicht einfach als „realsozialistischer“ Ballast wegzuwischen sind.
Die Zäsur von 1971/72 zeigt sich auch in der Architektur der DDR.
Zunächst ist festzuhalten, daß – wie bei so vielem in der SBZ- und DDR-Geschichte – eine Zäsur rund um die Jahre 1971 und 1972 festzustellen ist. Ob Ökonomie, Gesellschaftspolitik, Außenpolitik, Stasi-Schwerpunkte oder eben auch Architektur: Man kann die Geschichte des ostdeutschen Teilstaates, grob wohlgemerkt, in zwei Hauptepochen gliedern: in die Ära Walter Ulbricht bis 1971 und die anschließende Ära Erich Honecker bis 1989. Alle Vorurteile, die man bezüglich des Bauens in der DDR kennt, betreffen im eigentlichen Sinne die zweite Ära. Honecker war ein Befürworter des Massenbauens, egalitär und grau in der Theorie mit entsprechenden Folgen für die Praxis. Spannender, wie auch im politischen und wirtschaftlichen Kontext, ist dagegen die erste DDR-Phase, diejenige unter Ulbricht. Zwar gab es auch dort ideologische Dogmen, starre Funktionäre und den bekannten Mangel an Baumaterialien – aber insbesondere in der Aufbauphase bis zum Mauerbau 1961 gab es auch unterschiedliche Architekturstile und entsprechende Debatten, freilich mit von der SED festgesetzten Grenzen.
Diese Phase ist untrennbar mit dem Namen Hermann Henselmann (1905–1995) verbunden, dessen man 2025 aufgrund seines Geburts- und Todestages gedenkt. Henselmann wird heute als „Stararchitekt“, „Baumeister“ oder auch als „Architekturvisionär“ des Ostens bezeichnet. Das hat Gründe, und wir sehen sie, wenn wir durch Berlin schlendern. Frankfurter Allee, Karl-Marx-Allee, Strausberger Platz, Frankfurter Tor, Haus des Lehrers und nicht zuletzt der weltweit bekannte Fernsehturm beim Alexanderplatz – Henselmann gab und gibt Ostberlin sein markantes Gesicht.
Die Allee – der grandiose neue Roman über den Stararchitekten der DDR ist schon jetzt das Ost-Buch des Jahres.
Über sein ereignisreiches Leben und vieldiskutiertes Werk ist nun ein historisch-dokumentarischer Roman erschienen, den eines seiner Dutzenden Enkelkinder verfaßt hat. Die Autorin heißt Florentine Anders und das Buch, aus naheliegenden Gründen, Die Allee (Berlin/Köln 2025). Es ist schon jetzt das Ost-Buch des jungen Jahres. Über sechs Jahrzehnte wird nicht nur die Lebensgeschichte der Henselmanns, also Hermanns und seiner acht Kinder, geschrieben, sondern zugleich eine einmalige Architektur- und Gesellschaftsgeschichte der DDR und ihrer Vorbedingungen und Folgen verfaßt.
Von der Weimarer Bauhochschule, die er in den Jahren nach Kriegsende zu einer „Hochschule neuen Typs“ machen wollte, geht es aufgrund einiger politischer und privater Turbulenzen für Hermann 1949 nach Ostberlin. Der sowjetisch besetzte Teil der ehemaligen Reichshauptstadt liegt, wie die drei westlichen Zonen auch, noch immer in Trümmern. Doch allmählich beginnt eine Art Wettkampf um den besseren Wiederaufbau: West vs. Ost im Kalten Krieg, BRD vs. DDR im innerdeutschen Streit, Westarchitekten vs. Ostarchitekten in der Branche. Hermann soll dabei den Osten auf Vordermann und in Führungspositionen bringen – und erhält zu diesem Zweck größere Pilotprojekte für sozialistische Wohn- und Repräsentationsbauten. Hermann, der Bauhaus-geprägt war und daher zunächst sehr modern und experimentell bauen wollte, läßt sich von den Direktiven Moskaus und Ulbrichts beeinflussen: Das bedeutet ganz plastisch, sich den sozialistischen Realismus anzueignen und Stalins Geschmacksvorgaben zu berücksichtigen. Dieser hatte verordnet, daß das Bauen in seinem Hegemonialbereich nicht modernistisch und „kosmopolitisch“ betrieben werden dürfe. Vielmehr gehe es darum, nationale Traditionen und Volksbezüge in sozialistischen Großvorhaben sichtbar zu machen. Ulbricht sekundiert pflichtschuldig, der kapitalistische Stil der westlichen Welt sei abzulehnen; man merke bei diesem schließlich gar nicht, ob man sich in Afrika oder in Amerika aufhalte, so gleich wirke das neue Westbauen auf den Betrachter; später wird Ulbrichts Nachfolger Honecker dafür sorgen, daß auch in der DDR vieles schlichtweg gleich elend aussieht. So wird Henselmann der Auftrag zuteil, die Stalinallee, heute wieder Frankfurter Allee, nach den Maßstäben der Stalinschen Setzungen zu entwerfen. Wohnungen, Türme, Plätze – Henselmann prägt die Aufbauphase Ostberlins gegen eigene innere Widerstände ob des „Kitschs“ des Spätstalinismus. Die Subordination wird belohnt: 1952 erhält Henselmann mit einigen Kollegen den hochdotierten Nationalpreis erster Klasse für seine schöpferische Tätigkeit im Dienste „einer neuen nationalen Baukultur in Deutschland“. Und ab Sommer 1953 wird er offiziell als „Chefarchitekt der Stadt Berlin“ bezeichnet.
Doch Stalins Nachfolger Chruschtschow leitet eine Wende in der Architekturpolitik des „Ostblocks“ ein. Monumentaler Stil der Stalinschen Epoche zwischen sozialistischem Realismus und nationaler Traditionsbeanspruchung, teilweise in den „Zuckerbäckerstil“ mündend, wird fortan verworfen. Es deutet sich in der Sowjetunion der 1960er-Jahre an, was beim Vasallen in der DDR unter Honecker ab 1971 dann voll entfaltet wird: schneller bauen, billiger bauen, standardisierter bauen. Die prächtige Stalinallee wird damit zum Relikt einer abgemeldeten Epoche. Henselmann begrüßt das Ende der dogmatischen Stalin-Ulbricht-Megalomanie, doch hadert er zugleich mit dem nun folgenden Massenbau als Verfallsform der Architektur. Er sitzt künftig zwischen allen Stühlen, wird als Chefarchitekt Berlins abberufen und verliert sich in heiklen Affären, in grauenvollem Jähzorn, in ständigen Konkurrenzstreitigkeiten.
Fehlendes Verständnis der Honecker-Funktionäre für Ästhetik und Lebensfreude
Auftrieb verschafft ihm seine idealtypische Dreigliederung Ostberlins: Die preußische Prachtstraße Unter den Linden – bewahrt und gepflegt – solle fortan die Vergangenheit repräsentieren, der Marx-Engels-Platz (heute Schloßplatz) die Gegenwart, der zu gestaltende Alexanderplatz samt Fernsehturm die Zukunft. Das gelingt ihm und verstärkt daher seinen Ruhm als Architekt der Zone mit Weltformat. Dann kommt 1971, das „schwarze Jahr“ für Henselmann, so seine Enkelin im Roman – denn Ulbricht wird durch Honecker abgelöst. Der Abstieg der DDR, längst schleichend wahrnehmbar, nimmt nun unter dem mediokren Saarländer auf dem Regierungssitz in Ostberlin volle und unaufhaltsame Fahrt auf. Architektur als Ausdruck der Gesellschaft wird fortan zur grauen Massenware. Das hat einen Grund: Es ist die seit 1945 anhaltende Wohnungsnot. Drei Millionen Wohnungen will Honecker von seinen Architekten und Bauherren möglichst rasch geliefert wissen. Doch Honecker haßt Altbauten, anders als Henselmann, und so gehen die Innenstädte vor die Hunde, während an den Stadträndern, wie in Berlin-Marzahn, neue Massenbehausungen entstehen oder gar neue Städte auf der grünen Wiese konzipiert werden wie Hoyerswerda. Honecker nennt das die „Einsicht in die Notwendigkeit“, Henselmann nennt es genormtes Bauen, was genormte Menschen hervorbringen werde. Er bringt sich zwar ein, versucht die Monotonie zu durchbrechen, Akzente zu setzen. Doch das gelingt ihm zu selten; meist ist mangelndes Geld der Grund, oft genug auch fehlendes Verständnis der Honecker-Funktionäre für Ästhetik und Lebensfreude.
Ende der 1980er-Jahre, als die DDR ihre Legitimität bei der absoluten Mehrzahl ihrer Bürger längst verloren hatte, besinnt sich Honecker auf die Kraft und Einheit spendende Rolle von nationalen Mythen und Entwicklungslinien. Plötzlich dürfen Architekten aus Ostberlin mit Kollegen aus dem Westen wieder über eine gemeinsame Identität der durch die Mauer geteilten Stadt diskutieren; plötzlich soll bauhistorische Kontinuität gepflegt werden; plötzlich wird auch Altbausubstanz wieder wertgeschätzt. Das kommt selbstverständlich ebenso zu zaghaft und zu spät wie die propagandistisch-ideologische Inanspruchnahme des preußischen Geistes- und Kulturerbes. Die Bürger können so nicht mehr von der abgewirtschafteten SED-Herrschaft überzeugt werden. Auch Henselmann schreibt den Honecker-Staat längst ab. Die Sehnsucht, die deutsche Teilung zu überwinden, so faßt seine Enkelin Florentine Anders Henselmanns damaligen Standpunkt zusammen, sei „ein Wunsch, der tief im Volk verwurzelt ist, ganz unabhängig von politischen Erwägungen“.
Es kam, wie es kommen mußte: Die Mauer fiel, die DDR ging unter. Doch das Vermächtnis Henselmanns überdauert diesen politischen Systemwandel. Das liegt einerseits am bis heute Henselmann-geprägten Gesicht Ostberlins. Und es liegt fortan andererseits an der Allee, diesem grandiosen Roman ostdeutscher Zeitgeschichte aus der Feder von Florentine Anders.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.