von Roman Steiner
Die moderne Archäologie beinhaltet neben den klassischen Methoden der Ausgrabung und Restauration auch naturwissenschaftliche analytische Methoden wie die Isotopenanalyse von Kohlenstoff und Strontium und die Untersuchung der sogenannten alten DNA (aDNA). Anhand von gefundenen Knochen kann man daher mittlerweile bei optimalen Erhaltungsbedingungen nicht nur die biologische Art herausfinden, sondern auch Alter, ethnische Herkunft, genetische Verwandtschaft, den Ort der Geburt und wo das Individuum lebte. Kombiniert mit den Erkenntnissen der anthropologischen Forensik kann man darüber hinaus auch noch die Art des Todes und das Alter des Betreffenden festlegen.
Lassen Sie uns dazu ein Gedankenexperiment machen. Stellen wir uns eine hypothetische Ausgrabung in Ungarn vor, bei der überraschend ein spätantikes Massengrab gefunden wird. Die Befunde zeugen davon, daß hier offensichtlich sowohl ostgermanische Krieger als auch Hunnen mit ihren Waffen begraben wurden. Besonders auffällig dabei ist, daß einem Krieger offenbar der Kopf abgetrennt worden war; er scheint auch eine ältere Verletzung an einem Auge zu haben. Zur großen Überraschung der Archäologen findet sich auch ein stattliches Grab einer ostgermanischen Frau mit einem Kind, deren Verletzungen an der Halswirbelsäule darauf hinweisen, daß die Frau ebenfalls geköpft wurde. Genetische Untersuchungen bestätigen dann, daß es sich bei dem Kinderskelett um ihren Sohn handelt – während der Vater des Kindes ostasiatischen Ursprungs, also sehr wahrscheinlich Hunne, zu sein scheint. Wer sich ein wenig mit deutschen Sagen beschäftigt, wird unschwer erraten, auf welches Heldenepos sich dieser – leider frei erfundene – archäologische Kriminalfall bezieht. Aber: In den letzten Jahren gelang es allerdings wirklich, skandinavische Sagas mittels archäologischer und naturwissenschaftlicher Methoden zu bestätigen.
Die Wikinger-Totenschiffe von Salmen
Im Jahr 2008 stießen Archäologen auf der Insel Saaremaa in Estland auf die Überreste von zwei Schiffsgräbern, die mittels Radiokarbonmethode auf die Zeit zwischen 650 und 700 n. Chr. datiert wurden. Die „Salme-Schiffe“ sind die frühesten bekannten Beweise für eine maritime Expedition der Wikinger in dieser Region. Der Fund bestand aus zwei Wasserfahrzeugen, von denen das größere eine Länge von rund 17 Metern aufwies und Platz für etwa 30 Ruderer bot. Größe und Bauweise deuten auf eine militärische Nutzung.
Außerdem fanden die Archäologen die Skelette von mindestens vierzig Kriegern, die eindeutig tödliche Kampfverletzungen aufwiesen und mit reichen Grabbeigaben bestattet worden waren. Während im großen Schiff insgesamt 33 etwa 1,80 m große Tote in zwei Reihen geordnet mit Waffen wie Schwertern, Schilden und Speeren übereinander beigesetzt worden waren, lagen im kleineren Schiff sieben Skelette, dazu offenbar Tieropfer und kostbare Gegenstände wie eine Schachfigur aus Walroßzahn, die einem der Toten im Mund steckte. Weiters fand man Falkenskelette und ein mit Juwelen besetztes Schwert, die auf eine hohe gesellschaftliche Stellung der Bestatteten hindeuteten. Die Isotopenanalyse der Zähne deutet darauf hin, daß die Toten aus dem heutigen Zentralschweden kamen, die Analyse der DNA ergab die dort typischen Y-Haplogruppen. Zusätzlich konnte man feststellen, daß vier der Toten Brüder waren.
Offenbar wurde eine Gruppe von Wikingern in Kampfhandlungen verwickelt. Dabei scheint es, daß sie ihre Schiffe zur besseren Verteidigung noch an Land zogen. Die gegnerischen Pfeilspitzen steckten noch in den Planken. Entweder Überlebende oder andere Wikinger schienen später Gelegenheit gehabt zu haben, die Gefallenen ehrenvoll in ihren Schiffen zu bestatten.
Die Ynglingasaga wird zum historischen Ereignis
Im 13. Jh. schrieb der Isländer Snorri Sturluson in seiner Ynglingasaga, welche die Geschichte der teils mythischen Ynglinger-Dynastie erzählt, zum Ende König Ingvars:
Es sprach sich schnell herum, daß das Volk von Sýsla Yngvarr erschlagen hatte. Und eine estnische Streitmacht griff den Herrscher, Ljóshamr („der Hellhäutige“), im Herzen des Wassers an. Und die Ostsee singt zur Freude des schwedischen Herrschers die Lieder von Gymir.
Zusätzlich wird in der Historia Norwegiæ, die nur aus einer Abschrift aus dem 15. Jh. bekannt ist, berichtet, daß König Ingvar während einer Expedition im Baltischen Meer auf der Insel Eysysla, heute Saaremaa, starb. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß in dem Wikingerschiff von Salme die sterblichen Überreste eines bisher mythischen Wikingerkönigs aus dem 8. Jh. beigesetzt sind und die etwa 500 Jahre später aufgezeichnete Saga ein tatsächliches Ereignis beschrieb.