von Caroline Sommerfeld
Der Begriff „neutral“ kommt aus dem Lateinischen, von neutrum, keines von beiden: Wenn ein Staat sich also neutral verhält, schlägt er sich auf keine von zwei Seiten. Rainer Maria Rilke hat die neutrale Haltung 1985 in einem Gedicht so ausgedrückt:
Es dringt kein Laut bis her zu mir
von der Nationen wildem Streite,
ich stehe ja auf keiner Seite;
denn Recht ist weder dort noch hier.
Die Eidgenossenschaft ist seit 1516 im rechtlichen Sinne neutral.
In der Tat ist das, was heute Neutralität genannt wird, zuvorderst ein Rechtsbegriff. Die Haager Kriegsordnung sah 1907 verbindlich vor, daß ein neutraler Staat sich auch in Friedenszeiten so zu verhalten habe, daß er im Kriegsfall glaubhaft feststellen könne, keine der Kriegsparteien zu bevorzugen bzw. zu benachteiligen und an keinen Kampfhandlungen teilzunehmen oder sie zu fördern. Das Neutralitätsrecht verbietet der Schweiz, einen Staat militärisch zu unterstützen, der sich in einem bewaffneten Konflikt befindet. Es erlaubt allerdings den auf dem Hoheitsgebiet eines neutralen Staates ansässigen Privatunternehmen durchaus den Handel mit Staaten, die sich im Krieg befinden.
Die Eidgenossenschaft ist seit 1516 im rechtlichen Sinne neutral; nach dem Dreißigjährigen Krieg beschloß die Tagsatzung von Wil die Schaffung eines gemeinsamen Bundesheeres zur Behauptung der Neutralität. Die glaubwürdige Handhabung dieser bewaffneten Neutralität der Schweiz und die Gründung des Roten Kreuzes 1863 verschafften der schweizerischen Neutralität hohe Anerkennung nach außen und ein starkes moralisches Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Bürger im Inneren. Die Glaubwürdigkeit der Schweiz wird verstärkt durch die sogenannten „Guten Dienste“, nämlich diplomatische Schutzmacht sein zu können und die Gaststaatenrolle bei Friedensverhandlungen zu übernehmen. Auf der Netzpräsenz des Schweizer Außenministeriums liest man daher: „Die Schweiz kann Brücken bauen, wo andere blockiert sind, weil sie keinem der Machtzentren angehört und keine versteckte Agenda verfolgt.“
Die Schweiz gehört indes, wenn auch erst seit 2002, zur UNO – diese Mitgliedschaft weist sehr wohl auf eine versteckte Agenda hin. Denn die aus dem freimaurerischen „Völkerbund“ hervorgegangene internationale Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen hat eigene politische Absichten: Unter den Schlagworten der Friedenssicherung, der Menschenrechte und der Demokratie betreibt die UNO eine Kontrollpolitik der Globalisierung.
Neutralitätsrecht vs. Neutralitätspolitik
Das oben skizzierte Neutralitätsrecht stößt seit Jahrzehnten in immer gravierenderem Maße auf das, was die Schweiz ihre Neutralitätspolitik nennt. Diese betrifft keine Rechtspflichten, sondern die moralische Glaubwürdigkeit in der Staatengemeinschaft. Die Neutralitätspolitik ist nicht in einem internationalen Abkommen geregelt, sondern liegt im Ermessen der Schweiz – mit dem Effekt, daß Neutralität von offizieller Seite explizit als „ein außen-, sicherheits- und auch wirtschaftspolitisches Instrument, das der jeweils herrschenden politischen Großwetterlage angepaßt werden muß“ betrachtet wird. Bereits im Jugoslawienkrieg, im Irakkrieg und neuerdings im Ukrainekrieg wurde daher die Neutralitätspolitik gedehnt und „angepaßt“. Bislang wurde das Neutralitätsrecht nicht aufgegeben, aber spätestens seit 2022 wurde versucht, dieses im Wege der Neutralitätspolitik zu unterlaufen: durch Waffenlieferungen „an demokratische Staaten“, durch einseitige Beteiligung an Wirtschaftssanktionen und durch immer engere politische – nicht militärische – Zusammenarbeit mit der NATO.
Österreich hatte sich im Staatsvertrag 1955 die Schweiz als Vorbild genommen. Seit 2001 wird Neutralität hierzulande als „Bündnisfreiheit“ verstanden. Doch Österreich ist bereits der „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP), einer NATO-Vorfeldorganisation, beigetreten sowie seit 2004 den sogenannten „Battlegroups“ der EU. Das internationale Neutralitätsrecht ist ursprünglich geschaffen worden, um politische Anpassungen an die wechselhafte „Großwetterlage“ hintanzuhalten – um etwa zu verhindern, daß es aus dringlichsten Gründen wie „Putin darf nicht siegen!“ wenn nicht ausgesetzt, so doch immer unverhohlener unterlaufen werden könne. Die Schweiz und Österreich sind ihrem moralischen Selbstverständnis nach und völkerrechtlich womöglich wirklich „immerwährend“ neutral, werden aber indirekt durch UNO und NATO politisch immer „kriegstüchtiger“.