Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Wikimedia Commons, Anidaat
Jungschwinger auf dem Rütli am Vierwaldstättersee, wo das Bündnis der drei Urkantone geschlossen worden sein soll.

Wenn der Böse einen Zuchtstier gewinnt

von Susanne Schett

Das „Schwingen“ – weltweit einzigartiger Schweizer Nationalsport

Schwingen ist eine Sportart, die ausschließlich in der Schweiz ausgeübt wird. Es handelt sich um eine Zweikampfsportart, dem Ringen und Judo verwandt, jedoch mit eigenen Regeln, Griffen und Schwüngen, deren Ablauf ausdrücklich einen respektvollen Umgang der Kämpfer miteinander verlangt. Fairplay gilt als heiliger Grundsatz. Entscheidungen des Kampfrichters werden zudem niemals angefochten, selbst bei offensichtlichen Fehlern.

Der „Hosenlupf“ geht auf das 13. Jahrhundert zurück.

Eine erste Darstellung mit der typischen Art, Griff zu fassen, stammt aus dem 13. Jh. und findet sich in der Kathedrale von Lausanne, was umso erstaunlicher ist, als bei der damals allmächtigen Kirche sportliche Vergnügungen grundsätzlich verpönt waren. Die Ursprünge sind wahrscheinlich in der Zentralschweiz und im Mittelland unter Hirten und Bauern zu finden, wo der „Hosenlupf“ traditionell bei Alp-, Kirchweih- und Wirtshausfesten praktiziert wurde. Die frühesten Erwähnungen des Schwingens in amtlichen Quellen stammen aus dem 15. Jh. Da es am Rande der Wettkämpfe öfters zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, versuchten die städtischen Behörden ab dem 16. Jh., den Sport zu regulieren oder gar gänzlich zu verbieten. Danach konnte er bis zum 18. Jh. nur unter massiven Einschränkungen ausgeübt werden, was sich aber in der Folge der Aufklärung radikal änderte.

Die Teilnehmer verkörperten den idealen Schweizer, standen für Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Bodenständigkeit.

Man entdeckte die Schönheit der Natur, besonders der Alpen, und es entwickelte sich ein Interesse am alpinen Brauchtum. Das Schwingen und auch zwei weitere ländliche Volksspiele, typisch für die Schweiz wie das Hornussen, ein Mannschaftssport ohne Körperkontakt oder direkte Aggressionen sowie Steinstoßen mit dem 83,5 kg schweren Unspunnenstein, wurden vorwiegend von den Alphirten und Sennen ausgeübt. Die Teilnehmer verkörperten den idealen Schweizer, standen für Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Bodenständigkeit. Mit der Idee des Nationalstaates gewann allmählich lokales Brauchtum bei national gesinnten Städtern an Bedeutung. Sie brachten diese Wettkämpfe in die Städte und organisierten Nationalspiele, begleitet von Jodeln, Alphornblasen und Fahnenschwingen. Das erste Unspunnenfest fand 1805 im Berner Gebiet statt, das erste Eidgenössische Schwinger- und Älplerfest 1889 in Zürich. Heute werden verschiedene regionale und kantonale Feste abgehalten, das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (ESAF) findet jedoch nur alle drei Jahre statt und dauert drei Tage lang.

Es treten zwei Sportler in einem Ring von 14 Metern Durchmesser, belegt mit 23 Kubikmetern Sägemehl – mindestens 15 Zentimeter hoch – gegeneinander an und versuchen, den Gegner mit verschiedenen Griffen und Schwüngen mit beiden Schultern auf den Boden zu legen. Die Sportler tragen über langer Hose und Hemd eine kurze Hose aus festem Drillich, einer hellbraun, der andere dunkelbraun, gehalten von einem festen Ledergurt. Zu Beginn eines Gangs müssen beide Schwinger die Hose des Gegners in festem Griff halten; nur wer mit mindestens noch einer Hand die Hose des Gegners festhält, erzielt Punkte, mit einer Ausnahme: dem Bodenlätz. Dabei läßt der Kämpfer die Hose mit beiden Händen los, packt den Gegner augenblicklich an der Schulter und wirft ihn auf den Rücken. Lösen beide Schwinger gleichzeitig den Griff, wird der Gang unterbrochen. Unter den wichtigsten sieben Schwüngen finden sich u.a. der Kurzzug, der Übersprung, der Hüfter, der Buur (Bauer) und der Wyberhaagge (Weiberhaken). Den Gegner zu würgen, Hebeldruck auf die Gelenke auszuüben, zuzuschlagen oder den Kopf in den Boden zu drücken sowie Augen auszustechen ist verboten.

Ein Wettkampf besteht aus sechs Gängen, beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest (ESAF) sind es acht. Ein Gang dauert von vier Minuten bei einem Regionalfest bis zu sechzehn Minuten beim Schlußgang des ESAF. Während des Anschwingens (Gänge eins bis vier), werden nacheinander die besten Paarungen ermittelt, gemäß der bisher erreichten Punktezahl, wobei sich Verbandskollegen nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. Als Ausstich bezeichnet man die Gänge fünf und sechs, die nicht mehr von allen Teilnehmern bestritten werden. Das gilt auch für das ESAF, wo nochmal nach sechs der hier notwendigen acht Gänge ein Teil der Schwinger ausscheidet. An den letzten beiden Gängen nimmt nur noch ungefähr die Hälfte der angetretenen Kämpfer teil, und im Schlußgang wird der Sieger unter den beiden Führenden in der Rangliste erkoren. Legt ein Schwinger seinen Gegner auf den Rücken, erhält er dafür 10,00 Punkte, der Unterlegene immerhin noch 8,50 Punkte, nach heftiger Gegenwehr möglicherweise auch 8.75, zumindest im Schlußgang. Wird der Gegner erst am Boden überwältigt, werden 9,75 Punkte vergeben, bei unentschieden (genannt ein Gestellter) je nach Stärke der Gegenwehr während des Kampfes 8.75 oder 9 Punkte.

Das Ritual verlangt, daß der Sieger dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken wischt.

Wer den Schlußgang gewinnt, ist der Schwingerkönig, ein Titel, den der Betreffende sein Leben lang tragen darf. Der Verlierer wird der Erstgekrönte genannt. Es ist ein symbolträchtiges Ritual, daß der Sieger dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken wischt. Der Gewinner erhält einen Kranz aus Eichenlaub, ist folglich ein Eidgenosse und wird ein Böser genannt, wie alle anderen auch, die einen Kranz gewonnen haben. Es werden nach der Regel nicht weniger als 15 Prozent und nicht mehr als 18 Prozent der Teilnehmer ausgezeichnet, je mehr Teilnehmer, desto mehr Kränze gibt es zu gewinnen. Die Sponsoren sorgen für einen Gabentempel, bei dem es allerlei Nützliches zu gewinnen gibt, wie etwa Haushaltsgeräte, Landmaschinen oder Möbel. Die Schwinger dürfen sich ihren Preis selbst aussuchen, wobei die besten den Vorrang genießen. Der Schwingerkönig erhält als Preis einen Stier, ein Zuchttier von annähernd 1.000 kg Gewicht mit einem Wert von bis zu 30.000 Franken, den er behalten oder dessen Wert er sich auszahlen lassen kann.

Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß diese Kampfsportart auch ihre Schattenseiten aufweist. Zum einen gab es bisher einen Dopingfall, spektakulär vor allem, weil der Betreffende hochdekoriert und Präsident des Schwingklubs Einsiedeln war. Im Jahr 2018 wurde er des Dopings überführt und rückwirkend ab 2019 für zwei Jahre von der Disziplinarkammer von Swiss Olympic gesperrt, obwohl er seinen Rücktritt bereits erklärt hatte. Seine letzten zwei Siege wurden ihm aberkannt. Zum anderen sind Unfälle bei diesen Kämpfen keineswegs selten, obschon das Schwingen sicherlich nicht als Hochrisikosportart bezeichnet werden kann. Die Zahlen aus der Statistik der Unfallversicherung SUVA lassen jedoch aufhorchen. Die Zentralschweiz als wichtigste Region für diesen Sport weist in der Kategorie Kampfsportarten im Vergleich zum Rest des Landes überdurchschnittliche Fallzahlen auf, was eindeutig auf den Schwingsport zurückzuführen ist. Jährlich kommt es im Durchschnitt zu mehreren hundert Unfällen. Zumeist handelt es sich um Knie-, Schulter- oder Nackenverletzungen. Zwei Schwinger verletzten sich Ende der 1990er-Jahre so schwer, daß sie seither querschnittgelähmt sind. Besonders tragisch verlief im Jahr 2004 für einen 19jährigen Schwinger ein Sturz auf den Kopf mit irreversiblen Schäden an der oberen Halswirbelsäule. Er verstarb kurze Zeit danach.

Der Eidgenössische Schwingerverband (ESV) hat seit den gravierenden Vorfällen für Korrekturen gesorgt. So wurden die Sägemehlringe vergrößert und die Beschaffenheit und der Aufbau der Kampfunterlage verbessert. Im Training steht vermehrt die Unfallprävention im Vordergrund. Das Aufwärmen bekam eine größere Bedeutung sowie gezieltes Nackentraining. Vom Vorbild Judo wurde das Üben der Falltechnik und das Abrollen über die Schultern übernommen. Kinder, die sich für diesen Sport interessieren, beginnen bereits im Alter von sieben oder acht Jahren mit dem Training. Gearbeitet wird an der Kondition und Koordination, Reaktivkraft, Beweglichkeit und Ausdauer. Es gilt, das Ziel zu erreichen, ein Koloß mit einer Größe von etwa zwei Metern und einem Körpergewicht von 100 bis 150 kg zu werden, was sicherlich nicht jedem in die Wiege gelegt ist. Viele Jahre hartes Training sind notwendig, um sich mit etwa zwanzig Jahren vielleicht für einen Wettkampf zu qualifizieren.

Professionalisierung, Kommerzialisierung und politische Korrektheit gegen „Urchigkeit“

Das Schwingen hat im Lauf der Jahre eine fortwährende Professionalisierung erfahren und durch Presse und Fernsehübertragungen an Bedeutung und Beliebtheit gewonnen. Schwinger werden als Stars gefeiert. Es gibt fünf Schwingerverbände unter dem Eidgenössischen Dachverband, der seit 126 Jahren besteht und nach stetigem Zuwachs an die 50.000 Mitglieder zählt. Erwartungsgemäß nehmen inzwischen auch Frauen an diesem Sport teil, bereits im Jahr 1992 wurde der Eidgenössische Frauenschwingerverband (EFSV) gegründet.

Befremdlich ist die Anwendung von „Gender-Gaga“ auf der offiziellen Seite der ESAF-Veranstalter im Internet. Es bleibt abzuwarten, wie weitgehend die Kommerzialisierung des Schwingersports die ursprüngliche, „urchige“ Bedeutung und Atmosphäre der Schwingerfeste durchdringt. In diesem Jahr findet vom 29. bis 31. August wieder ein Eidgenössisches Schwingerfest in Glarus statt, bei dem etwa 250 Kämpfer antreten wollen.

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