Wolter von Plettenberg gewährt Riga die Religionsfreiheit (Dom zu Riga)
Wikimedia Commons, Zairon

Von Iwan dem Schrecklichen über Hitler zu „Putler“

von Martin Hobek

Lettland, die Deutschen und die Russen

Die Geschichte der Letten ist eine Geschichte der Unfreiheit. 1201 gründete Bischof Albert von Bremen die Stadt Riga – in einer Region, in der baltische und finno-ugrische Völkchen noch ohne Schrift- und Christentum lebten. Dementsprechend schnell etablierte der Deutsche Ritterorden einen eigenen Staat. Am 13. September 1502 konnte der legendäre Landmeister des Deutschen Ordens in Livland, Wolter von Plettenberg, die Russen besiegen. Da dies auf wundersame Weise gegen einen übermächtigen Angreifer gelang, feiern die Rigenser noch heute den jeweiligen Jahrestag. Plettenberg gelang nicht nur ein beständiger Friede mit Moskau, er ließ auch den nicht aufzuhaltenden Protestantismus zu, obwohl er selbst zeitlebens katholisch blieb. So bescherte er seinem Land eine fast sechzig Jahre andauernde kulturelle und wirtschaftliche Hochblüte.

Kurländische Kolonien in der Karibik und in Afrika

1561 war aber Schluß. Iwan IV. der Schreckliche, rang nach drei Jahren den Ordensstaat nieder. Dessen letzter livländischer Landmeister Gotthard Kettler holte das Maximum an Schadensbegrenzung heraus: Während Estland und Livland russisch annektiert wurden, rettete er ein Drittel seines Staatsgebietes und unterstellte es als Herzogtum Kurland und Semgallen dem Schutz der polnischen Krone. Sein Enkel Jakob Kettler, der 1642-1682 regierte, ließ eine große Handelsflotte sowie eine Kriegsflotte für den Begleitschutz bauen. Darauf fußend wurde Kurland reich und erwarb sogar die Karibikinsel Tobago und die Mündung des Gambiaflusses in Westafrika als Kolonien. Der vorletzte kurländische Herzog, Ernst Johann von Biron, übernahm sogar inoffiziell die Regentschaft über Russland, wo „bironowtschina“ noch heute Fremdherrschaft bezeichnet. Aber auch dieses Kapitel wurde 1795 im russischen Sinne geschlossen: Der autonom agierende deutschbaltische Adel war nun wieder vereint – administrativ in den russischen Gouvernements Estland, Livland und Kurland.

Deutsche Herrensitze, lettische Landarbeiter

Für die lettischen Leibeigenen der Deutschen änderte sich nichts. Flächendeckend in allen drei Provinzen bestanden die Dörfer aus einem deutschen Herrensitz und den lettischen Landarbeitern. Diese Herrensitze erlebten sehr unterschiedliche Schicksale. Manche verschwanden buchstäblich vom Erdboden oder sind heute vor sich hinbröckelnde Ruinen. Manche wurden restauriert und können gegen Entgelt besichtigt werden. In anderen wiederum befindet sich nun das Gemeindeamt, die Dorfschule oder das Kulturheim. Auch die Verhaltensweisen der deutschen Herren waren vielfältig. Einige interessierten sich für die lettische Kultur und dokumentierten sie, ja, kämpften in Einzelfällen sogar für die Aufhebung der Untertänigkeitsverhältnisse. Andere gerierten sich als unerträgliche Tyrannen. So kam es, daß vereinzelte lettische Dorfgemeinschaften zur Orthodoxie überliefen, also quasi zur Religion der Vorgesetzten ihrer Herren.

Aber auch die Städte waren deutsch geprägt, in diesem Fall durch ihr Bürgertum. Letten spielten meistens die Rolle des Dienstpersonals. Soziologen hätten nur einen Unterschied feststellen können, der sehr mit geographischen Gegebenheiten zu tun hatte: Küstenstädte wie Riga, Libau (Liepāja) oder Windau (Ventspils) blickten auf eine hanseatische Tradition zurück, weshalb reiche Kaufleute das Sagen hatten; größere Siedlungen im Landesinneren wie die kurländische Hauptstadt Goldingen (Kuldīga) oder die semgallische Kapitale Mitau (Jelgava) hatten ein aristokratisches Antlitz. Das Verhältnis der autonomen deutschen Landesherren zu den russischen Herrschern, die oftmals deutschstämmig waren, gestaltete sich wechselhaft. Heftig umstritten war unter den führenden Deutschen, wie man Russifizierungsbestrebungen aus St. Petersburg begegnen sollte – diplomatisch oder konfrontativ?

Der Erste Weltkrieg – Deutschbalten zwischen allen Stühlen

1905 rückten Russen und Deutsche unerwarteter Weise schlagartig eng zusammen, als deutsche Herrensitze und russische Amtsgebäude durch lettische Revolutionäre in Flammen aufgingen. Nicht einmal ein Jahrzehnt später schlug diese neue Verbundenheit durch den Ersten Weltkrieg ins Gegenteil um, und die Deutschbalten saßen plötzlich zwischen allen Stühlen. Nachdem die Russen militärisch aus dem Land gedrängt worden waren und vorzeitig aus dem Krieg ausschieden, sprossen die deutschen Hoffnungen kurz ins Unermessliche. Es bildeten sich eigene militärische Einheiten, die ernsthaft bemüht waren, territorial an die Zeiten des Ordensstaates oder des Herzogtums Kurland anzuknüpfen. Mit der Kriegsniederlage Deutschlands, in dem gesellschaftlich kein Stein auf dem anderen blieb und das wirtschaftlich verelendete, geriet das Baltikum für Berlin zu einer kleinen, weit entfernten Randregion. Die militärisch ambitionierte schmale deutsche Oberschicht hatte zahlenmäßig den Letten und Esten wenig entgegenzusetzen. Diese nützten das kosmische Fenster und gründeten erstmals in ihrer Geschichte eigene Nationalstaaten. Die deutschen Grundherren waren plötzlich mit Selbstbehauptung beschäftigt. Mit Paul Schiemann hatten sie einen geistigen und politischen Führer gefunden, der auch vom dominierenden lettischen Staatsmann Kārlis Ulmanis respektiert wurde – ein landestypischer, ursprünglich deutscher Name, in diesem Fall von Karl Ullmann abgeleitet. Ulmanis amtierte mehrmals als Ministerpräsident, ab 1934 mit diktatorischen Vollmachten und ab 1936 zusätzlich als Staatspräsident. Der Hitler-Stalin-Pakt lieferte Lettland den Sowjets aus. Ulmanis rief die Letten auf, keinen ohnehin sinnlosen Widerstand zu leisten, sein Satz „Ich bleibe auf meinem Platz, und ihr werdet auf eurem bleiben!“ wurde berühmt. Ulmanis starb 1942 in einem Gefängnis im heutigen Turkmenistan.

Mit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1941 und der Rückkehr der Roten Armee bereits 1944 mußten sich die Letten für das für sie sprichwörtlich „kleinere Übel“ entscheiden, und die meisten kämpften in eigenen Waffen-SS-Legionen auf Seiten Hitlers. Während der Kurlandkesselschlachten starben Tausende von ihnen und ebensoviele lettische Zivilisten. Ab 1945 setzte eine starke Russifizierung ein, auf die mit zivilem Ungehorsam reagiert wurde. Während Russen den Letten gerne sagten, sie sollten doch keine „Tiersprache“ verwenden, stellten sich diese gegenüber Russischsprachigen gerne taub. Moskau entzog Riga alsbald das Vertrauen. So wurde etwa 4 km nördlich von Libau eine eigene, streng abgeschottete Werftstadt namens Karosta errichtet, für die man Kolchosearbeiter aus Innerrußland herankarrte.

Wladimir Wladimirowitsch mit Seitenscheitel und Schnauzbärtchen

Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges wiederum verweigerte die zweite lettische Republik ihren russischen Einwohnern die Staatsbürgerschaft. Deren sowjetische Pässe waren obsolet geworden, neue russische sollten sich aber als teuer und auch sonst nachteilig erweisen. So wies Lettland einen zweistelligen Prozentsatz an Staatenlosen auf. Selbst in Riga, wo die Russen 49 und die Letten 47 Prozent der Bewohner stellten, lebte man nur nebeneinander. Besonders gut sichtbar wurde das während der großen 800-Jahr-Feierlichkeiten 2001: Die Russen feierten am Domplatz, die Letten am Freiheitsplatz. Die Letten lehnten auch Rußlands Staatschef Wladimir Putin, der damals noch europafreundlich war bzw. sich so gab, vehement ab. In Riga war ein Aufkleber omnipräsent, der Wladimir Wladimirowitsch mit Seitenscheitel und Schnauzbärtchen zeigte, samt Schriftzug „Putler“ (Bild).

Wie sehr sich die einstige lettische Leibeigenschaft in die Volksmentalität eingebrannt hat, zeigen Schilder mit der Aufschrift „Privātīpašums“, die man im ganzen Land auch bei kleinsten Grünflächen sehen kann – wohl nirgendwo sonst in der Welt wird Privateigentum so hoch gehalten. 2004 trat Lettland der EU bei, und Brüssel machte schon vorher Druck, die Russen einzubürgern. Als Kompromiß kam ein Sprach- und Staatsbürgerschaftstest heraus, der für die bildungsfernen Betagten in Karosta unbewältigbar war, für junge, westlich orientierte Russen hingegen nicht. Zu dieser Zeit kam es auch tatsächlich zu einem starken Tauwetter, für das zwei Ereignisse verantwortlich waren: Die Rigarussin Marija Naumowa gewann 2002 für Lettland den Eurovisions-Songcontest, und 2004 schaffte die großteils aus Russen bestehende lettische Fußballnationalmannschaft sensationell die Qualifikation für die EM in Portugal, wo sie sich wacker schlug und sogar die BRD-Auswahl bei einem 0:0 an den Rand einer Niederlage brachte.

Von diesem Tauwetter ist heute nichts mehr zu bemerken, zwischen den Volksgruppen befindet sich eine meterdicke Eisschicht. Die lettische Sicht auf die deutsche Vergangenheit des Landes gestaltete sich hingegen im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte durchaus positiv. Daß nun deutsche Bundeswehrsoldaten im Rahmen der NATO die lettische Grenze gegen Russland sichern, könnte man fast als einen Treppenwitz der Geschichte betrachten.

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