Von Görlitz nach O.S.

von Benedikt Kaiser

Kaisers Zone (15)

Zum heutigen Ostdeutschland gehört noch ein kleiner Zipfel Schlesiens: die Stadt Görlitz und ihr Umland. Dieser malerische Flecken an der Neiße ist dem Freistaat Sachsen angegliedert. Auf der Autobahn 4 von Dresden aus wirbt ein großes Landschaftsschild mit der Aufschrift „Niederschlesien“ für dieses Tor zum ehemaligen deutschen Osten.

In Görlitz, dessen bezaubernde Altstadt häufig als Filmkulisse dient, leben heute 55.000 Einwohner. Jene, die einheimisch sind, sprechen eine Mundart, die zur Gruppe der lausitzschlesischen Dialekte zählt. Das ist nicht die einzige Verbindung zum „alten“ Schlesien: In der Stadt wird vielerorts an die Schlesier und ihre Besonderheiten erinnert. Eine Reise nach Liegnitz oder Breslau, Oppeln oder Beuthen sollte mit Görlitz beginnen.

Wer an die genannten nieder- und oberschlesischen Städte denkt, mag sich fragen: Leben dort eigentlich noch Deutsche? Der polnische Staat schafft Klarheit, über die Volkszählung aus dem Jahr 2021, die nun ausgewertet wurde. Das Ergebnis ist überraschend: Auf die Frage „Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause?“ gaben fast 200.000 Personen Deutsch an. Das entspricht einem Anstieg von 107 % im Vergleich zur Volkszählung von 2011. Woran es liegt? Der organisierten deutschen Minderheit (DMi) ist es mit einer eigenen Kampagne gelungen, Deutschstämmige zu mobilisieren. Der Autor dieser Zeilen war selbst verblüfft, als er bei einem O.S.-Aufenthalt in einer größeren Stadt zahlreiche Plakate mit der Aufschrift „Du zählst!“ erblickte. Ein weiterer Grund für die steigende deutsche Präsenz: 2021 fand die Volkszählung elektronisch statt, ohne verschlungene bürokratische Wege.

Der Anstieg deutscher Muttersprachler in Polen kann hingegen explizit nicht am Zuzug von Bundesdeutschen gelegen haben. Denn um an der Zählung teilnehmen zu können, mußte man den polnischen Paß besitzen.

Interessant ist noch folgender Punkt: 200.000 polnische Staatsbürger sind deutsche Muttersprachler, aber nur 132.000 gaben als Nationalität „Deutsch“ an. Das heißt z.B., daß viele deutschsprachige Schlesier weiterhin eher angeben, „Schlesier“ zu sein als „Deutsche“. Schlesien bleibt komplex: Zeit, es (neu) kennenzulernen und zwar von Görlitz bis in den Kohlenpott hinein.

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

Beitrag teilen

Facebook
Twitter
Email
Telegram
Print