von Thomas Grischany
Mit dem einprägsamen Stabreim „Von der Maas bis an die Memel“ beginnt die geographische Umschreibung der Ausdehnung eines einigen Deutschlands im 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben gedichteten Lied der Deutschen. Kein einziges der vier darin genannten Gewässer liegt heute innerhalb eines deutschen Staatsgebietes: Während die 874 km lange Maas durch Frankreich, Belgien und die Niederlande verläuft, bildet die auf einer Länge von 973 km durch Weißrußland und Litauen fließende Memel auch die Nordgrenze des Oblastes Kaliningrad, der russischen Exklave, die das nördliche Ostpreußen mit Königsberg umfaßt. Die 409 km lange Etsch liegt innerhalb der italienischen Grenzen, während der Belt ausschließlich von dänischem Staatsgebiet umgeben ist. Selbst im Entstehungsjahr des Liedes waren diese Wasserwege weder mit den politischen Grenzen des Deutschen Bundes – jenes 1815 dem Heiligen Römischen Reich nachfolgenden Staatenbundes – identisch, noch verliefen sie eindeutig entlang der deutschen Sprachgrenze.
Haben wir es hier bloß mit dichterischer Freiheit zu tun, die Stilmittel und Versmaß willkürlich über geographische und politische Genauigkeit setzt?
Keineswegs, denn im historischen Kontext des Jahres 1841 handelt es sich bei der Auswahl der vier Gewässer um eine durchaus nachvollziehbare Ansage. Die deutsche Nationalbewegung, zu der maßgeblich auch die Burschenschaften gehörten – Hoffmann war Mitglied der Alten Göttinger Burschenschaft Teutonia – lehnte den Deutschen Bund vehement ab, da er aus nationaler Sicht als zu locker und unvollständig sowie als Werkzeug des Metternichschen Unterdrückungsapparates empfunden wurde. Die französischen Ansprüche auf alle linksrheinischen Gebiete in der Rheinkrise von 1840 führten zu einer Aufwallung nationaler und antifranzösischer Gefühle und zur Komposition zahlreicher populärer Rheinlieder wie Die Wacht am Rhein oder Sie sollen ihn nicht haben. Daher postuliert auch das Lied der Deutschen an erster Stelle, daß Deutschland von keinem Feind in der Welt überwältigt werden könne, wenn es „stets zum Schutz und Trutze brüderlich“ zusammenhalte – eine Katastrophe wie zu Zeiten Napoleons durfte sich nie mehr wiederholen.
Danach also umreißt Hoffmann mit „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ die Grenzen dieses unüberwindlichen Deutschlands. Bei dem Belt handelt es sich um keinen Fluß, sondern eigentlich um den „Kleinen Belt“, eine rund 25 km lange und zwischen 600 m und 20 km breite Meeresstraße zwischen der Halbinsel Jütland, also dem dänischen Festland, und der Insel Fünen, die das Kattegat mit der Ostsee verbindet, während der „Große Belt“ sich zwischen Fünen und der Insel Seeland erstreckt. Somit umspült der Belt die Ostküste der jütländischen Halbinsel dort, wo das jeweils zur Hälfte deutsch und dänisch besiedelte Herzogtum Schleswig an das Königreich Dänemark grenzte, mit dem es sich seit 1460 und dem damaligen Vertrag von Ripen gemeinsam mit dem Herzogtum Holstein – beide Herzogtümer sollten up ewig ungedeelt bleiben – in Personalunion befand. Als dänisches Reichslehen war Schleswig, anders als Holstein, kein Mitglied des Deutschen Bundes. Jedenfalls wird Schleswig als das nördlichste Gebiet eines möglichen deutschen Nationalstaats gesehen.
Die Memel wiederum, die für gut 100 km in einem Abstand von bis zu zwanzig Kilometern südlich der im Frieden vom Melnosee 1422 festgelegten Grenze zwischen Ostpreußen und Litauen (1841 russisch) entlanglief, markiert die östlichste Ausdehnung des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes.
Die Etsch ihrerseits entspringt in den Bergen von Deutsch-Südtirol nahe der Schweizer Grenze und fließt zunächst östlich in Richtung Meran, bevor sie sich an Bozen vorbei und durch Welschtirol südlich bewegt, um sich bei Verona wieder ostwärts ihrer Mündung in der Lagune von Venedig bei Chioggia zuzuwenden. Damit ist der Anspruch auf mindestens die deutschen Gebiete Tirols als Südgrenze eines deutschen Staates gegeben.
Auf den ersten Blick erscheint die Bedeutung der Maas am unklarsten zu sein. Der Champagne entspringend fließt sie an Verdun vorbei nordwärts und verläuft dann, vom belgischen Namur ausgehend, in einem Bogen durch die Niederlande zunächst im Grenzgebiet zum Rheinland, bevor sie schließlich im Rhein-Maas-Delta in die Nordsee mündet.
Warum also hat Hoffmann nicht den Rhein gewählt, der damals das Thema so vieler patriotischer Lieder war, zum Großteil durch deutsches Gebiet fließt und partiell die Grenze zu Frankreich bildet? Genau aus letztgenannten Gründen, denn nachdem die Abtretung linksrheinischer Gebiete ohnehin nicht in Frage kam, hätte Hoffmann damit unter Verzicht auf das von Ludwig XIV. geraubte Elsaß zumindest eine teilweise Rheingrenze mit Frankreich akzeptiert. Auch das belgische Territorium östlich der Maas war ursprünglich ein Teil von Luxemburg, einem Land, das immer zum Römisch-Deutschen Reich gehört hatte. Erst bei der letzten luxemburgischen Teilung von 1839 waren diese französischsprachigen Gebiete an Belgien gefallen, während das restliche, Moselfränkisch sprechende Luxemburg ein unabhängiges Großherzogtum und Teilstaat des Deutschen Bundes blieb.
Jenes niederländische Gebiet, durch das die Maas an der Grenze zur damaligen preußischen Rheinprovinz vorbeifließt, war von 1839 bis 1866 – also während der Entstehung von Hoffmans Lied – als Herzogtum Limburg sogar ein unabhängiger Staat und ebenfalls Mitglied des Deutschen Bundes. Die Maas strömt also nicht nur zu einem Gutteil durch Gebiete, die noch im 19. Jh. umstritten waren, sie ist der Hauptstrom im Norden des alten Lotharii Regnums, jenes ephemeren Mittelreiches, das aus der Fränkischen Reichsteilung von 843 im Vertrag von Verdun hervorgegangen war und sich einst von Friesland über Nieder- und Oberlothringen, Burgund und die Lombardei bis nach Rom hinabzog, um für Jahrhunderte den umkämpften Grenzraum zwischen dem romanischen Westreich und dem germanischen Ostreich darzustellen und sich jeder eindeutigen machtpolitischen oder volkskulturellen Zuordnung zu entziehen. Auch die Gebiete der heutigen Niederlande (bis 1648) und Belgiens (bis 1795) gehörten für geraume Zeit zum Orbis des römisch-deutschen Reiches.
Einen symbolträchtigeren Flußlauf als die Maas, um die Westgrenze des deutschen Sprach- und Kulturraumes zu bedeuten, hätte Hoffmann nicht wählen können.
Somit ist die ideale Ausdehnung eines deutschen Nationalstaates in alle Himmelsrichtungen augenscheinlich gegeben. Weniger klar bleibt, wie sich im Zeitalter des Nationalismus’ die realpolitische Umsetzung dieser Grenzen hätte gestalten sollen, da keine davon strikt entlang sprachlich-ethnischer Kriterien verlaufen wäre. Man hätte entweder Nichtdeutsche in den Staatsverband aufnehmen oder – in Zeiten, als die ethnisch-sprachlich gemischte Zusammensetzung von Herrschaftsgebilden keine Rolle spielte – historisch gewachsene Länder aufbrechen müssen. Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem dynastischen Gedanken bei vielen – vor allem fortschrittlich gesinnten – deutschen Nationalisten hielten diese die Einheit der Länder für unantastbar. Das Königreich Böhmen beispielsweise galt sogar trotz seiner tschechischen Bevölkerungsmehrheit immer als ein „deutsches“ Land.
Im Fall der Memel hätten nur die außerhalb des Deutschen Bundes liegenden preußischen Ostprovinzen in den deutschen Staat einbezogen werden müssen, genauso wie es in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 geplant gewesen war. Diese umfaßten jedoch zweieinhalb Millionen Polen, und im Gebiet östlich der Memel, dem 1920 abgetretenen „Memelland“, lebte auch eine litauische Minderheit. Hinsichtlich Schleswigs dürfte Hoffmann das gesamte Herzogtum mitsamt seinen 200.000 dänischen Einwohnern als Teil Deutschlands betrachtet haben, wie es auch in Frankfurt 1848/49 und bei der Reichsgründung 1871 gehandhabt wurde.
Ebenso kann man vom Erhalt der Einheit der Gefürsteten Grafschaft Tirol ausgehen, was den Einschluß von rund 44 Prozent Italienern und Ladinern bedeutet hätte. Übrigens entspricht der Verlauf der Etsch außerhalb Tirols ungefähr der südwestlichen Grenze von Venetien, das bis 1797 eine unabhängige Republik und 1841 Teil des zum Kaisertum Österreich gehörenden Königreiches Lombardo-Venetien war. Könnte Hoffmann eventuell Venetien nicht als integralen Bestandteil eines imaginären italienischen Staates gesehen oder gar der deutschen Einflußsphäre zugerechnet haben?
Am wenigsten eindeutig erscheint die erwünschte Grenzziehung in der Sphäre des lotharingischen Zwischenreiches, außer daß der Rhein für Hoffmann keine ideale Grenze darstellte, eine Ansicht, welche die Reichsgründer von 1871 mit der Annexion von Elsaß-Lothringen teilten, für die jedoch weitere territoriale Berichtigungen der deutschen Geschichte über die Reichsgründung hinaus kein Thema waren.
Als Fazit bleibt, daß das Besingen von Maas und Memel, Etsch und Belt im Lied der Deutschen bei aller Symbolkraft ein eindrucksvoller dichterischer Ausdruck von Vaterlandsliebe und kein realpolitischer Leitfaden für eine Staatsgründung sein kann.