von Reinhild Bauer
Brauchtum (38)
Aus der sich uns dunkel verhüllenden Vorzeit unserer Ahnen grüßen sie uns! Sie geben uns Einblick in die Werte, Sitten und Alltagsabläufe und zeigen uns das Menschenbild der damaligen Zeit. Sie haben keinen Verfasser und kein Entstehungsdatum, sie leben in einem Volk und durch ein Volk. In ihrem mündlich überlieferten Werdegang sind sie bis heute gereift und immer wieder an neue Lebensumstände angepaßt worden: Märchen!
Das Märchen diente sehr lange Zeit dazu, Kindern und Jugendlichen Richtlinien fürs Leben zu geben, ihnen ein Idealbild zum Nacheifern zu liefern und Verhaltensweisen zur Lösung schwieriger Situationen aufzuzeigen. Die charakteristische Gegenüberstellung von Gut und Böse, mutig und feig, fleißig und faul machte Märchen zur Erziehungsrichtlinie. Das Ende, welches stets den tüchtigen, starken und ehrlichen Helden belohnt und ihn obsiegen läßt, soll als Motivation dienen, das eigene Verhalten auch nach diesen Werten auszurichten. Daß das Leben nicht immer aus eitel Sonnenschein besteht, sondern jeder Mensch seine Prüfungen, Sorgen und Nöte hat, ist eine weitere Lektion.
Vielen Märchen liegt auch die Aufforderung an die Hauptfiguren zugrunde, sich nicht Luftschlössern zuzuwenden, sondern der eigenen Art und Herkunft treu zu bleiben. Was jedoch keinesfalls ausschließt, daß man sich durch Fleiß und Mut emporarbeiten könne, wie es uns zum Beispiel das arme Aschenputtel zeigt. Tägliche Pflege des Grabes der Mutter, Fleiß und Bescheidenheit werden durch die Hochzeit mit dem Königssohn belohnt.
So bekannt wie die von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten Märchen sind nicht alle. Sehr viele dieser fast vergessenen kleinen Erzählungen haben es nie über ihre Entstehungsregion hinausgeschafft – oftmals, weil der Inhalt so spezifisch auf die Lebensumstände dieser einen Region zugeschnitten war; manchmal aber auch, weil die Bewohner in einer kulturellen oder sprachlichen Enklave lebten und das Märchen daher keine Gelegenheit hatte zu Wandern. Gerade dadurch blieb es jedoch spezifischer Ausdruck des Seelenlebens und Charakters dieser kleinen Volksgruppen.
Über die Autorin:
28 Jahre alt, Ehefrau, Mutter und Mitorganisatorin zweier großer Kulturveranstaltungen für die deutsche Jugend; aufgewachsen im Österreichischen Turnerbund und der Bündischen Jugend, Studium zur Volksschullehrerin, anschließend drei Jahre in der österreichischen Politik.