von L. Gitschner
Unterm Untersberg schläft Kaiser Karl der Große, sein Bart wächst um einen steinernen Tisch. Wenn das Reich in höchster Not ist, kommt er mit seinem Heer hervor und wird eine große Schlacht schlagen auf dem Walserfeld und dann Gericht halten unter dem dortigen Birnbaum. Solange die Raben aber fliegen um den Berg, so lange währt noch sein Schlaf, und solange muß das Reich auf seinen Retter warten. Soweit die Sage. Im Gedicht „Der Birnbaum auf dem Walserfeld“ raunt dazu Adelbert von Chamisso: „Ob voll das Maß der Sünde? ob reifet ihre Saat / Der Sichel schon entgegen? ob die Erfüllung naht?“
Die Not des „Reiches“ ist heute gewiß groß, das Maß der Sünden übervoll. Aber noch fliegen Rabenvögel in Gestalt von Dohlenschwärmen um den Untersberg, und der Walser Birnbaum wurde eben durch die Neupflanzung einer Mostbirne verjüngt, auf daß er am Tag des Gerichts zur Verfügung stehe. Auch die Wüde Gjoad (Wilde Jagd) zieht noch am Donnerstag der zweiten Adventwoche um den Untersberg. Sie besteht aus Gestalten wie der Habergoaß, dem Moosweiberl und dem Riesen Abfalter, die wieder eigenen Sagen- und Brauchtumskreisen entstammen. Den Kennern germanischer Mythologie fallen beim bärtigen Herrscher und seinen Raben sicher die Anklänge an Allvater Odin auf. Die Wilde Jagd erinnert dann auch an die skandinavische „Odensjakt“, die in den Rauhnächten über den stürmischen Himmel braust. Der Walser Birnbaum hat schließlich die gleiche Aufgabe wie die Weltenesche Yggdrasil am Thingplatz der Götter, wo diese sich unter ihr versammeln und Gericht halten.
Der Untersberg ist der sagenreichste Bergstock der Alpen.
Damit zieht er nicht nur Heimatforscher, sondern auch spiritistische Sinnsucher magisch an. Es gibt Steinkreise und unerklärliche Zeitphänomene, einen blutenden Bach, Baumkulte und Kraftlinien zu zwölf Kirchen der Umgebung. Dazu paßt dann die Sage vom Stollen der „Untersberger Mandln“ zum Salzburger Dom, damit sie nächtens dort ihre Messe feiern können. Wer auf Sinn- und Unsinnsuche ist, möge sich in die „Anderswelt“ begeben und die Seite www.untersberg.org aufsuchen.
Der Untersberg ist aber auch jenseits der Mythen unserer Vorväter ein faszinierender und todbringender Ort zugleich. Tief im Untersberg ziehen sich kilometerlange Höhlensysteme von Salzburg auf die bayerische Seite. In der dortigen Riesending Schachthöhle kam es im Sommer 2014 nach einem Steinschlag in eintausend Metern Tiefe zur bis dahin größten Rettungsaktion in der Geschichte des Alpinismus’. 728 Helfer aus fünf Nationen waren nötig, um dem Berg sein Opfer abzutrotzen. Er gab es nach zwölf Tagen lebendig frei, holte sich aber die Höhlenretterin, die den Schwerverletzten persönlich nach oben begleitet hatte, nur wenige Monate später in einer seiner anderen Höhlen.
Ein Bubenstück des Autors in der Kolowratshöhle
Menschen sterben ohnehin jedes Jahr am und im Untersberg, und auch der Autor dieser Zeilen wäre dort als Knabe beinahe umgekommen: Damals las ich von der Kolowratshöhle in der Ostflanke des Untersberges, die im 19. Jh. angeblich mit bengalischen Feuern beleuchtet für Feste auf ihrem zugefrorenen Höhlensee genutzt wurde. Dieser See würde rund ums Jahr zum Eislaufen einladen; der enge Zugang zur Höhle sei damals erweitert, und Abstiegshilfen in die Eingangshalle seien eingebaut worden – ich war begeistert. Mobiltelefone und Navigationssysteme gab es noch nicht, also stieg ich alleine und mit einer Wanderkarte den Dopplersteig hinan. Die Abzweigung zur Höhle war aber schon damals nicht mehr ausgeschildert und mußte mit Hilfe der alten Papierkarte erst einmal gefunden werden. Der Weg war verfallen und im steilen Gelände immer wieder weggebrochen. Nach mühsamer Suche fand ich den Einstieg und wäre in der eisigen und rutschigen Höhle beinahe verunglückt. Allein in und um diese Höhle gab es in historischer Zeit mehrere Todesopfer, darunter im „annus horribilis“ des deutschen Bruderkrieges von 1866 einen bayerischen Minister.
Während der Zeit des Heiligen Römischen Reiches lag der Untersberg in zwei geistlichen Fürstentümern des bayerischen Reichskreises, dem Fürsterzbistum Salzburg und der Fürstpropstei Berchtesgaden; darum hat dieser gewaltige Kalkstock als Gipfel bis heute einen Salzburger und einen Berchtesgadener „Hochthron“. Wie es unter geistlichen und deutschen Brüdern so vorkommt, gab es endlose Streitereien über Salzquellen und Einforstungsrechte, die immer wieder in umfangreichen Verträgen geregelt werden mußten. Bis heute gültig ist die 200 Jahre alte Salinenkonvention: Den Bayern gibt sie die Nutzungen der Wälder auf dem Berg und den Salzburgern die Nutzung der Salzvorkommen unterm Untersberg.