von Reinhard Olt
Neue, eindeutige Nachweise für die Unschuld von Südtiroler Freiheitskämpfern an aufsehenerregenden Vorfällen während der Bombenjahre.
Der „Fall Porzescharte“
Schließlich der „Fall Porzescharte“, an Tragik und Verwerflichkeit des amtlichen Wirkens italienischer Politik wie Justiz sowie des publizistischen ebenso wie des generellen historiographischen Nachhalls im Blick auf die „Südtiroler Bombenjahre“ wohl kaum zu übertreffen. In einer Auflistung von – nach heutigen Erkenntnissen angeblichen – Terroranschlägen, die einer Wien übermittelten diplomatischen „Verbalnote“ des römischen Außenministeriums vom 18. Juli 1967 beigeheftet ist, wird das Geschehen auf der Porzescharte am 25. Juni 1967 wie folgt „klar und eindeutig“ beschrieben:
„Sprengung des Mastes einer Hochspannungsleitung durch eine mit Uhrwerk versehene Sprengvorrichtung. Während des Lokalaugenscheins tritt der Alpini-Soldat Armando Piva auf eine Tretmine und verursacht eine Explosion. Infolge der schweren Verletzungen stirbt der Soldat kurz darauf im Zivilkrankenhaus von Innichen. Gegen 15 Uhr desselben Tages gerät eine Feuerwerker-Truppe nach Säuberung des um den Hochspannungsmast gelegenen Geländes in eine weitere Minenfalle. Die Explosion verursacht den Tod des Karabinierihauptmanns Francesco Gentile, des Fallschirmjägerleutnants Mario di Legge und des Fallschirmjäger-Unteroffiziers Olivo Tozzi [sic!, der richtige Name ist Dordi] sowie schwere Verletzung des Fallschirmjäger-Feldwebels Marcello Fagnani. Am Tatort wurde ein Gerät mit der Aufschrift B.A.S. aufgefunden.“
Von Anfang an hatten sich diesbezüglich jedoch ausgesprochen auffällige Widersprüche ergeben. Bereits am 26. Juni, also einen Tag nach den ersten italienischen Meldungen, die österreichischen Stellen übermittelt worden waren, ließ sich der Osttiroler Bezirkshauptmann Dr. Doblander mit einem Hubschrauber an den Ort des Geschehens bringen. Das Ergebnis seines Erkundungsfluges meldete die Sicherheitsdirektion für Tirol an das österreichische Innenministerium:
„Der Bezirkshauptmann schließt mit 100%-iger Sicherheit aus, daß in der Nähe dieses Mastes eine andere Explosion erfolgt ist. Es konnten weder Fußspuren noch Blutspuren noch irgendwie andere Spuren festgestellt werden, die darauf hindeuten würden, daß sich hier mehrere Menschen befunden haben. Der italienische Grenztrupp soll aber aus 25 Personen bestanden haben. Die Anwesenheit dieser 25 Personen in der Nähe dieses Mastes hält der Bezirkshauptmann auf Grund der Bodenlage und -beschaffenheit für ausgeschlossen.“
Dies deckte sich mit dem Inhalt eines Aktenvermerks der Tiroler Sicherheitsdirektion aufgrund von Angaben der Verbundgesellschaft, wonach zwei von deren Monteuren des Standortes Lienz in Begleitung eines Gendarmeriebeamten am 27. Juni auf der Porzescharte zur Schadensbegutachtung an der Leitung von Lienz nach Pelos waren. In besagtem Aktenvermerk wurde daraufhin festgehalten:
„Im näheren Bereich des Mastes auch auf italienischem Gebiet konnte außer einem Zettel, italienisch beschriftet, einigen Drähten, keine Spuren gefunden werden, die auf Minenexplosionen und vor allem auf das Verunglücken von Menschen schließen lassen. Es wäre anzunehmen, daß in solchen Fällen Verbandreste, Blutspuren oder ähnliches wahrnehmbar gewesen wäre. Außer einem weit entfernten Posten in der meist besetzten Kaverne aus dem 1. Weltkrieg waren im gesamten Bereich weder Grenzschutzorgane, Militär noch Arbeiter zu bemerken.“
Der „blutigste Terrorakt“, der keiner war
Fest steht, daß die alsbald für „den blutigsten Terrorakt“ verantwortlich gemachten und in Innsbruck in Untersuchungshaft genommenen Aktivisten des Südtiroler Freiheitskampfes Erhard Hartung (Arzt), Peter Kienesberger (Elektriker) und Egon Kufner (Soldat) in besagter Nacht im Juni 1967 gemeinsam am Ort des Geschehens waren. Sie waren nach Einbruch der Dunkelheit – um vom Alpini-Stützpunkt Forcella Dignas aus nicht gesehen zu werden – in Richtung Porzescharte aufgestiegen, um, wie stets beteuert, dort einen verwundeten Südtiroler BAS-Mann zu übernehmen, brachen das Vorhaben aber aufgrund von unüblichen Wahrnehmungen des durch viele ähnliche Einsätze erfahrenen Kienesberger, der sie als mögliche italienische Falle deutete, aber ab. Buchautor Speckner arbeitete heraus, daß Kienesbergers Erkenntnis, in dieser Nacht nicht allein auf der Porzescharte zu sein, mit einiger Sicherheit der Wirklichkeit entsprochen haben dürfte. Vehement stellen Hartung und Kufner, die beiden noch Lebenden – Kienesberger verstarb 2015 – das von italienischer Seite unterstellte Ziel der gezielten Tötung von Angehörigen der italienischen Sicherheitskräfte mittels Minen in Abrede. Die in Italien verurteilten und dort nach wie vor von Inhaftierung bedrohten, in Österreich hingegen freigesprochenen beiden lebenden Aktivisten beteuern in aller Klarheit, mit dem Tod der vier italienischen Soldaten am 25. Juni 1967 nicht das Geringste zu tun zu haben, was in den österreichischen Gerichtsverfahren, dem damals zugrundeliegenden, von ihren Verteidigern initiierten Gutachten sowie von den in Speckners vorgelegtes Buch eingegangenen jüngsten Sachverständigenexpertisen untermauert worden ist.
Die italienische Darstellung der Ereignisse um den 25. Juni 1967 ist unter einem Druck, dem sich Wien nicht widersetzt hat, vom politischen Österreich und dessen Sicherheits- sowie partiell auch Justizorganen letztlich übernommen worden.
Dieser Darstellung zufolge soll die Gruppe Kienesberger binnen einer halben Stunde den Strommast direkt an der Grenze doppelt vermint und zwei perfekt getarnte Sprengfallen derart optimal verlegt haben, daß sie ihr mörderisches Ziel erreicht hätten. Festzuhalten ist, daß diese Darstellung trotz aller neuen Archivfunde und seit 2013 erschienenen Publikationen, welche sie erheblich in Zweifel ziehen, als alleingültige angesehen wird und auch von einigen Historikern – insbesondere in Südtirol – geteilt wird. Dies vornehmlich infolge des ideologisch motivierten „erkenntnisleitenden Interesses“ und merklicher Bedachtnahme auf die vielfach obwaltende „politische Korrektheit“, wonach die „Porzescharte-Attentäter“ aus Österreich „eindeutig dem Rechtsextremismus zuzurechnen“ seien.
Wie sich in Speckners vorliegendem Buch zeigt, mißachtet die erwähnte Übernahme der italienischen Darstellung die sicherheitsdienstliche Aktenlage sowie die sprengtechnischen und naturwissenschaftlichen Bedingungen des Geschehens auf der Porzescharte. Diese werden in den darin enthaltenen gutachterlichen Stellungnahmen der Sachverständigen Ruspeckhofer und Hasler ausführlich erörtert. So resümiert Max Ruspeckhofer die von ihm angestellten umfänglichen sprengtechnischen Analysen und faßt deren Ergebnisse unumwunden in der aussagekräftigen Feststellung „ein Attentat, das keines war“ zusammen.
Hasler stellte nach vier Jahren umfangreicher wissenschaftlicher Feldversuche Rekonstruktionen zum Vorfall und den beschriebenen Sachverhalten im Detail zusammen. In forensischen Untersuchungen wurden die aufgrund der vorhandenen Akten sich ergebenden Sachverhalte nach modernsten, aus naturwissenschaftlich-(spreng)technischen Erkenntnissen gewonnenen Methoden auf Plausibilität sowie Reproduzierbarkeit hin überprüft und bewertet, sowie schließlich den aktenkundigen Ergebnissen gegenübergestellt.
Der Gutachter stellte zusammenfassend fest:
„Aufgrund der sehr umfangreichen Befundaufnahme, der Feldversuche/Rekonstruktionen sowie Detailanalysen der einzelnen Sachverhalte zu den aktenkundigen Angaben der Ereignisse vom 25. Juni 1967 auf der Porzescharte kann […] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, daß sich die Ereignisse so NICHT ereignet haben können. Die dokumentierten Ereignisse sind nicht im Ansatz reproduzierbar, absolut unerklärbar und nicht im Ansatz nachvollziehbar. […] Praktische Feldversuche bei denen die Sprengung vom 25.06.1967 mehrmals mit ballistischer Gelatine, humanoiden Dummies und Indikatoren nach den Aktenangaben wissenschaftlich hinterfragt und nachgestellt wurden“, belegten dies „eindeutig und zweifelsfrei“.
Ehre und Unehre
Speckners Buch enthält bisher unbekannte Illustrationen aus den von ihm erschlossenen Akten sowie solche, die von den wissenschaftlichen Feldversuchen der Gutachter herrühren, und es schließt mit einem anlaßbezogenen pointierten Überblick über jene überaus beachtenswerten geheimdienstlichen Aktivitäten in Italien, welche vor allem im Zusammenhang mit der Südtirolproblematik von Belang und Substanz sind. So bleibt abschließend festzuhalten, daß der Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit des einschlägig ausgewiesenen Autors das Hauptverdienst zukommt, in gründlichen Forschungsarbeiten den Nachweis erbracht zu haben, daß die Anschläge von 1966 und 1967 auf dem Pfitscherjoch, der Steinalm und der Porzescharte keineswegs unter die Verantwortung der Freiheitskämpfer des BAS rubriziert werden dürfen. Sie sind entweder als Unfälle zu verbuchen oder den von höchsten Stellen, Amtsträgern und Politikern des Staates angeordneten und bzw. oder gebilligten Umtrieben nationalistisch-autoritär gesinnter italienischer Geheimdienste und darin wirkender Funktionsträger zuzuordnen.
Es gereicht Italien ebensowenig zur Ehre wie einer gewissen Spezies der Historiker- wie der Politologenzunft, daß trotz längst dingfest gemachter Widersprüchlichkeiten und nachgewiesener Unrichtigkeiten geradezu unnachgiebig an herkömmlichen Darstellungen festgehalten wird. Und allen in die Südtirolfrage involvierten Amts- und Funktionsträgern in Politik, Justiz, Wissenschaft und Medien Österreichs und Tirols als Ganzes ist leider der Vorwurf nicht zu ersparen, angesichts aller neuen Erkenntnisse, die sie aufrütteln müßten, vor diesem untragbaren Zustand die Augen zu verschließen.
Zu Teil 1: https://dereckart.at/suedtiroler-bombenjahre-1-2/
Über den Autor:
Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt (71), Bauernsohn; nach Abitur und Wehrdienst Studium in Mainz, Gießen und Freiburg. Assistent Universität Gießen; danach 27 Jahre FAZ-Redakteur, davon 18 Jahre Korrespondent in Wien. Daneben von 1980 bis 2017 Lehraufträge an bundesdeutschen und österreichischen Hochschulen sowie Gastprofessuren in Budapest; mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen. Orden und Ehrenzeichen Südtirols, Tirols sowie der Steiermark; Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst; Komturkreuz des Ungarischen Verdienstordens.