von Sven Schiszler
Es liegt im Wesen des Menschen zu verallgemeinern und im Sinne einer Kategorienbildung zu vereinfachen. Die Weise, in der es geschieht, unterliegt in Abhängigkeit vom herrschenden Zeitgeist konjunkturellen Schwankungen. Die Einordnung des Soldaten – als Held oder Mörder – macht da keine Ausnahme. Die allzu holzschnittartige Vereinfachung verstellt den Blick auf ein differenziertes Bild, das es wert wäre, diskutiert zu werden. Man landet dann vielleicht – gleichsam als Näherungswert – am ehesten bei der dritten Lesart, die in der Überschrift genannt wird: beim Opfer.
„Soldaten sind Mörder“, stellte Kurt Tucholsky in einem Beitrag in der Weltbühne 1931 entschieden und verallgemeinernd fest und handelte damit der Redaktion einen Strafprozeß wegen Beleidigung der Reichswehr ein – der allerdings mit einem Freispruch endete, da man eine „unbestimmte Gesamtheit“ schlechterdings nicht beleidigen könne. Die Losung „Soldaten sind Mörder“ war auch in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter den Friedensaktivisten populär. Und nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in der BRD wurden deswegen Prozesse geführt; auch sie endeten mit einem Freispruch, da die Aussage solange vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sei, solange nicht eine bestimmte Gruppe von Soldaten oder spezifisch die Bundeswehr gemeint sei. Diese Urteile sorgten für einiges Rauschen im Blätterwald – sowohl in der Publikums- als auch in der Fachpresse wurde dieses Urteil heftig kritisiert.
Die Empörung über die Gleichstellung mit Gewaltverbrechern verdeckt jenes Moment, das dem Soldatendasein eigen und selbstverständlicher Bestandteil des soldatischen Wesens überhaupt ist: Der Soldat wird dazu ausgebildet, gegnerische Soldaten im Bedarfsfall möglichst effizient kampfunfähig zu machen; in der Realität des Gefechtes: zu töten. Ob vom Soldaten moralisch wertvollere Konfliktlösungsansätze bevorzugt würden oder er ganz allgemein Skrupel hat, Menschen zu verwunden oder zu töten, die ihm persönlich kein Leid angetan haben, ist dabei völlig unbedeutend. Der Soldat handelt auf Geheiß seines Vorgesetzten, der wiederum auf den Befehl seines nächsten Vorgesetzten hin handelt, der wiederum seine Entscheidung, die zu so dramatischen Konsequenzen führt, hoffentlich gut abgewogen hat. Oder vielleicht doch nicht? Dieses in letzter Konsequenz bis hin zur Tödlichkeit reichende Ausgeliefertsein, das als schicksalshaft begriffen wird, ist nicht zuletzt eingegangen in einschlägiges soldatisches Liedgut: „Hundert Mann und ein Befehl / und ein Weg, den keiner will / Tagein, tagaus, wer weiß wohin / verbranntes Land, und was ist der Sinn? […] Wahllos schlägt / das Schicksal zu,/ heute ich und morgen du,/ ich hör von fern die Krähen schrei’n / im Morgenrot / warum muß das sein?“ Töten und getötet werden in einer bewaffneten Auseinandersetzung, die man – zumindest in weiten Teilen – als sinnentleert wahrnimmt, war und ist wohl ein Aspekt, den man zwingend berücksichtigen muß, will man das Soldatendasein vollumfänglich erfassen.
Pauschalisierungen unterschiedlicher Stoßrichtung werden dem Wesen des Soldaten nicht gerecht.
Man kann festhalten, daß die zugespitzte Pauschalisierung als „Mörder“ dem Wesen des Soldaten nicht gerecht werde. Doch der Gegenentwurf, demnach der Soldat grundsätzlich ein ehrenvoller Verteidiger der Heimat sei, und im Falle seines Todes bei der Erfüllung dieser Pflicht ein Held – wie es auf nicht wenigen Kriegerdenkmälern landauf, landab ausdrücklich festgehalten ist –, greift ebenfalls zu kurz und stellt jene Aspekte des Krieges in Abrede, die, seit es Kriege gibt, unweigerlich dazu gehören und so ziemlich das diametrale Gegenteil des ritterlichen, ehrenvollen und heldenmütigen „Völkerringens“ darstellen: Tod, Folter, Verstümmelung und andere Grausamkeiten. Die Berufung auf ethisch-moralische Ideale, etwa jene heute gerne gepflegte Berufung auf die „Verteidigung der westlich-demokratischen Werte und der Menschenrechte“, gerät darüber zur unerträglichen Propagandafloskel. Die sittlich-moralische Entgleisung folgt dem Krieg wie ein Schatten. Aber ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen – wurde es nun im Namen der Rettung des Abendlandes vor dem Weltbolschewismus oder bei der „Verteidigung“ der „demokratisch-westlichen Werte“ im Irak, in Afghanistan oder im Donbass begangen.
Das Wesen des Soldaten als Kriegshandwerker bleibt damit mehrdeutig, er ist Täter und Opfer gleichermaßen, Held wohl in den allerseltensten Fällen. Damit soll den Gefallenen vergangener Kriege nicht die Würde abgesprochen werden, sondern nur angedeutet sein, daß mit der posthumen Verleihung des Heldenstatus’ von den Entscheidungsverantwortlichen ein allzu niedriger Preis bezahlt wird für das, was gefordert wurde: das Leben von Familienvätern, Söhnen, Ehegatten.
Tucholsky und Brehm: links und rechts den Krieg auf den gleichen Nenner gebracht
Der allzu pazifistischer Gesinnung sicherlich unverdächtige deutschnationale Schriftsteller Bruno Brehm diente im Ersten Weltkrieg als Artillerieoffizier in der österreichisch-ungarischen Armee. Im Jahre 1931 erschien sein Buch Das gelbe Ahornblatt. Ein Leben in Geschichten, in dem unter dem Kapitel „Krieg“ auch elf autobiographische Episoden aus Brehms Erleben als Kriegsteilnehmer an verschiedenen Fronten, als Schwerverwundeter, als russischer Kriegsgefangener und letztlich als Überlebender versammelt sind. Die letzte der Geschichten heißt „Die unsühnbare Schuld“ und beschreibt die Selbstzermürbung eines Veteranen, der sich im Hochgebirgskampf mit einem gegnerischen, ebenfalls schon etwas älteren Soldaten über die nur wenigen Meter zwischen ihren Stellungen hinweg auf eine Waffenruhe und Austausch verständigt hatte und ihn in Folge eines Mißverständnisses getötet hatte – der Griff des Italieners ins Futteral galt nicht einer Pistole, wie der Österreicher glaubte, sondern dem Bild der Kinder, das der Alpini seinem Feind zeigen wollte, nachdem sie sich aufgrund der Sprachbarriere nur radebrechend miteinander verständigen konnten – was er aber zu spät gemerkt hat. Mit dieser Tötung lud der Soldat nach eigenem Empfinden eine unvergebbare Schuld auf sich, die ihn in den folgenden Schlachten zu gefährlichsten Taten motivierte, in denen er nicht Heldenmut unter Beweis stellen, sondern gezielt den Tod suchen wollte, so schwer belastet war sein Gewissen. Sein Überleben empfindet er ungleich schwerer, als der Tod es hätte sein können, er ist ein seelisches Wrack, dem beim Anblick seiner Kinder jedes Mal aufs neue jene seelische Wunde aufgerissen wird, die er aus dem Krieg davon getragen hat. Brehm macht damit Facetten des Krieges deutlich, die sich weit jenseits glorifizierender Idealisierung bewegen.
Bemerkenswert jedenfalls: Der linkssozialistische Journalist Tucholsky und der deutschnationale Schriftsteller Brehm veröffentlichen im selben Jahr 1931 Texte, die in ihrer Aussage näher beieinanderliegen, als man aufgrund von deren weltanschaulicher Positionierung je annehmen würde. Gewiß, die Stilarten, die provokante Zuspitzung des einen hier, die menschliche Berührung des anderen dort, unterscheiden sich, aber unzweifelhaft steht fest, daß sie im Krieg weniger das Heroische als vielmehr das Destruktive als wesenhaft erkennen, sei es in absichtsvoller, unmoralischer Handlung von Soldaten oder in dem Umstand, daß Betroffene zu Opfern unvorstellbarer körperlicher oder seelischer Qualen werden.
Sollte man aus dem Umstand, daß zwei weltanschaulich denkbar unterschiedliche Charaktere in Bezug auf den Krieg und das Kriegerdasein zu so ähnlichen Wahrnehmungen gelangen, nicht mit einiger Berechtigung eine Gültigkeit ableiten? Die internationale Ächtung der Streuminen war ein mittlerweile Makulatur gewordener erster zarter Ansatz; die Ächtung des Krieges als Form der Konfliktbearbeitung und Interessendurchsetzung wäre der – wenngleich vermutlich völlig unrealistische – große Wurf.
„Das vaterländische Kind nicht mit dem kriegskritischen Bade ausschütten“
Der deutsche Liedermacher Esteban Cortez veröffentlichte ein Lied namens Soldatengebet – in derb-soldatischer Sprache gehalten zweifelt er in fünf Strophen die gängigen offiziellen Narrative zu geführten Kriegen an – Stichwort „westliche Werte“ – und wittert eher ökonomische und geopolitische Ziele hinter den Engagements von „Verteidigungsbündnissen“. Das Lied wurde im Februar 2022, kurz nach Beginn des kriegerischen Konfliktes in der Ostukraine, dem Publikum bekannt gemacht. Zum Abschluß variiert es den Refrain in treffender Weise: „Links, zwo, drei, vier,/ es wird ’ne große Tat./ Zuerst stirbt die Wahrheit/ und dann die Vernunft/ und am Ende der Soldat. Links, zwo, drei, vier,/es wird ’ne Heldentat./ Es lebe die Wahrheit und auch die Vernunft/ und dann verreckt auch kein Soldat.“
Könnte man es schöner sagen? Ja, sicher. Peter Rosegger hat das schon vor über hundert Jahren getan: „Wenn wir mehr für das Vaterland leben würden, wäre es vielleicht seltener notwendig, fürs Vaterland zu sterben.“ Mit einem einzigen Satz bringt der Dichter es auf den Punkt, dabei das vaterländische Kind nicht mit dem kriegskritischen Bade ausschüttend. Mit sicherer Hand wird die Trennlinie gezogen zwischen dem, was absichtsvoll nur allzu oft vermengt wird: Das tätige, wehrhafte Bekenntnis zu Heimat, Volk, Kultur, mithin zum Eigenen, ist scharf zu unterscheiden von der billigen Vereinnahmung im Namen dieser Werte durch jene, die von ganz anderen Interessen geleitet sind.