Neue Serie: Mythen, Sagen, Wundersames (III)
von Alain Felkel
Der Horrorfilm Sleepy Hollow sprengt 1999 sämtliche Kinokassen. Er beruht angeblich auf einer US-amerikanischen Sage, die Washington Irving 1820 in Worte faßte. Doch Irvings Geschichte hat ein dunkles Geheimnis: Sie beruht in Wahrheit auf Erzählmotiven der deutschen Sage, was der Erfolgsautor zu Lebzeiten dezent verschwieg.
Der US-amerikanische Autor Washington Irving gilt als Erfinder der amerikanischen Kurzgeschichte. Eine seiner berühmtesten „Short stories“ ist die Sage von Sleepy Hollow, die 1999 sogar von Tim Burton verfilmt wurde. In Burtons Film klärt der Polizist Ichabod Crane im entlegenen Marktflecken Sleepy Hollow eine rätselhafte Mordserie auf. Als Täter entpuppt sich der sogenannte „Hessische Reiter“, ein kopfloses Gespenst, das seine Opfer mit einem Schwertstreich enthauptet. Nach weiteren Tötungsdelikten entschlüsselt Crane das Geheimnis des kopflosen Wiedergängers, was die Mordserie beendet. Der Film hat sofort Erfolg und wird zum Kassenmagneten. Wer jedoch eine werkgetreue Verfilmung der gleichnamigen literarischen Vorlage erwartet hat, wird enttäuscht.
Ein Geist wird zur Chimäre
In Irvings Sleepy Hollow ist die Hauptfigur Ichabod Crane nämlich gar kein Polizeiermittler, sondern ein Schulmeister, der im malerischen Tarrytown am Hudson River lebt. Obwohl Crane arm wie eine Kirchenmaus ist, freit er um Katrina van Tassel, die ihn letztendlich auf einem Fest abweist. Auf dem Rückweg begegnet Crane um Mitternacht dem Hessischen Reiter, einem kopflosen Gespenst, das die Gegend um Tarrytown zur Geisterstunde tyrannisiert. Crane erschrickt zu Tode: Der Geist thront auf einem riesigen Pferd, sein abgeschlagenes Haupt prangt am Sattelknopf. Der Anblick ist zu viel für Cranes schwache Nerven, er ergreift die Flucht. Doch der kopflose Reiter läßt sich nicht abschütteln und schleudert ihm sein abgeschlagenes Haupt ins Gesicht. Crane stürzt vom Pferd. Der Geist läßt von ihm ab und verschwindet.
Am nächsten Tag ist Crane wie vom Erdboden verschluckt. Am Tatort finden die Bewohner Tarrytowns nur noch seinen Hut und einen zerschmetterten Kürbis vor. Hat der kopflose Reiter Ichabod Crane vertrieben, ja gar getötet? Diese Frage bleibt offen.
Hessische Hilfssoldaten als Schreckgespenster
Der Erfolg von Irvings Sleepy Hollow besteht aus einer geschickten Verknüpfung von Zeitgeschichte und dem uralten Sagenmotiv des kopflosen Reiters, das kelto-germanischen Ursprungs ist, jedoch besonders in Deutschland tradiert wurde. Während des US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kämpften an die 30.000 hessische Hilfstruppen auf britischer Seite gegen die amerikanischen Freiheitskämpfer. Die Hessen waren bei den Kolonisten als grausame Barbaren verschrieen, was Irving wohl zur Erfindung des Hessischen Reiters inspirierte. Als zweite Inspirationsquelle für die Erzählung gilt die Behauptung Irvings, die Sage von Sleepy Hollow durch die Erzählungen eines schwarzen Müllers erfahren zu haben.
Auf den Spuren eines Plagiats
Heute gilt es als gesichert, daß dies nicht stimmt. Bereits 1930 wies der deutschstämmige US-amerikanische Literaturwissenschaftler Henry A. Pochmann in seiner Untersuchung Irving’s German Sources klar nach, daß Irvings Sleepy Hollow ein Plagiat sei. Nach Pochmann fußt Irvings Sage in weiten Teilen auf einer Rübezahlerzählung des deutschen Schriftstellers und Literaturkritikers Johann Karl August Musäus. Dieser erzählt in seiner Sammlung Volksmärchen der Deutschen die Geschichte einer Gestalt, die nachts, als kopfloser Reiter verkleidet, Reisende überfällt – ein Frevel, den der Wald- und Berggeist Rübezahl selbst später an dem Täter rächt. Auch ist es wahrscheinlich, daß Irving noch anderswo literarische Anleihen im deutschen Sagenschatz getätigt hat. Bekannt ist nämlich, daß der Bestsellerautor zu diesem Zweck sogar Deutsch lernte, wie er seinem Freund Brevort gegenüber in einem Brief gestand. Zu plündern gab es nämlich schon damals reichlich in deutschen Gefilden. So findet sich das Sagenmotiv des kopflosen Reiters seit dem Mittelalter oft in Deutschland und zwar besonders im Rheinland. Hier tötet der kopflose Wiedergänger die Menschen allerdings schon durch bloße Berührung. Des Weiteren gibt es die Sagenvariante, daß der Enthauptete Menschen den nahen Tod anzeige oder sie vor Gefahren warne.
Trotz des Plagiats ist Irvings Sleepy Hollow das Beispiel einer gelungenen Sagenadaption. Durch die Verquickung der Geschichte Ichabod Cranes mit dem Motiv des kopflosen Reiters hat Irving einen Mythos erschaffen, der noch heute für ein Millionenpublikum Strahlkraft besitzt.