www.literaturportal-bayern.de, Josef Niedermeier

Siegfried von Vegesack

von Erik Lehnert

Es ist selten geworden, daß man einen Dichter ausschließlich mit einer bestimmten Landschaft verbindet. Das hat nicht nur damit zu tun, daß „Heimat“ zu einer umstrittenen Vokabel geworden ist, sondern auch damit, daß sich das Unverwechselbare der deutschen Landschaften in der Massengesellschaft abgeschliffen hat. Es entsteht der Eindruck, überall lebten die gleichen Menschen, nur vor einer anderen Kulisse. Doch gerade die Menschen, die seit ewigen Zeiten in ihrer Landschaft leben, machen das Unverwechselbare aus. Und davon gibt es immer weniger. Was ein Fritz Reuter für Mecklenburg, ein Theodor Fontane für Brandenburg oder ein Ernst Wiechert für Masuren, das südliche Ostpreußen war, wird man heute nur noch selten ­finden.

Keinem ist es wie Vegesack gelungen, das Schicksal der Baltendeutschen in eine Romanform zu bannen, die bis heute Leser findet.

Das gilt in gewisser Weise auch für Siegfried von Vegesack, den man, so der Name überhaupt noch eine Assoziation auslöst, immer mit dem Baltikum in Verbindung bringen wird. Das ist einerseits eine Reduzierung seines wesentlich umfangreicheren Schaffens auf die Baltische Tragödie, andererseits zeigt es aber auch, welchen Stellenwert dieser Roman hat. Es gibt zwar viele andere baltendeutsche Dichter – vor allem Werner Bergengruen und Otto von Taube, aber auch Else Hueck-Dehio wären hier zu nennen – aber keinem ist es wie Vegesack gelungen, das Schicksal der Baltendeutschen in eine gültige Romanform zu bannen, die bis heute Leser findet und damit den Namen Vegesack vor dem Vergessen bewahrt hat.

Die „baltischen Provinzen“, wie Estland, Kurland und Livland – das heutige Estland und Lettland – in Deutschland genannt wurden, gehörten seit Ende des 18. Jh. zu Rußland. Sie standen aber seit dem Mittelalter unter deutschem Einfluß, der sich einerseits aus der Herrschaft des Deutschen Ordens und andererseits aus dem Erfolg der Hanse erklärt. Die Deutschen, Adel und Bürgertum, stellten daher die Oberschicht der Länder. Mit der russischen Herrschaft konnten sich die Deutschen zunächst gut arrangieren, nicht zuletzt, weil schon lange gute Handelsbeziehungen nach Rußland existierten und der baltendeutsche Adel seit der Zeit Ivans des Schrecklichen in russischen Diensten stand.

Ende des 19. Jh. setzte eine scharfe Russifizierungskampagne ein, mit der die kulturelle Macht der Deutschen gebrochen werden sollte. Russisch wurde zur Amts- und Lehrsprache, traditionelle Formen der baltischen Gerichtsbarkeit wurden verboten. Der Druck der Russifizierung verschärfte die sozialen Konflikte, indem der Haß der Unterschichten gegen die Deutschen gelenkt wurde. Die Bevölkerungszahlen zeigen das Problem: 1887 lebten in den baltischen Provinzen 165.000 Deutsche, 1.070.300 Letten, 885.200 Esten und 128.900 Russen. Der Großgrundbesitz befand sich zu 80 bis 90 Prozent in deutschem Besitz.

Das ist die Situation, in der Siegfried von Vegesack 1888 als sechster Sohn von insgesamt sieben Kindern eines Ordnungsrichters auf dem Familiengut Blumenbergshof in Livland zur Welt kam. Der Ordnungsrichter wurde aus dem Kreise der adeligen Gutbesitzer gewählt und war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig. Diese Form der Selbstverwaltung wurde im Zuge der Russifizierung abgeschafft. Der Vater starb bereits 1900, und Vegesack wuchs in Riga auf, wo er das Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur studierte er zwischen 1907 und 1914 in Dorpat, Heidelberg, München und Berlin Geschichte und Kunstgeschichte, nebenbei arbeitete er als Journalist. Während des Krieges hielt er sich zunächst in Schweden auf, wo er auch heiratete. Er zog schließlich nach Bayern, wo die Familie 1918 ein Wirtschaftsgebäude der Burgruine Weißenstein bezog. Die mühevolle und kostspielige Instandsetzung des Turmes beschrieb Vegesack 1932 in dem Roman Das fressende Haus.
Insbesondere am Ende des Ersten Weltkrieges fielen viele Baltendeutsche bolschewistisch und nationalistisch motivierten Mordtaten, dem „roten Terror“, zum Opfer. Der Versuch der Baltischen Landwehr, die deutschen Interessen im Baltikum zu wahren und die Baltendeutschen zu schützen, mißlang. Darin war Vegesack selbst nicht involviert, allerdings wurde sein ältester Bruder, der den Blumenbergshof geerbt hatte, im März 1919 von lettischen Bolschewisten ermordet. Vegesack lebte als freier Schriftsteller zunächst von Übersetzungen aus dem Russischen. Neben Gogol, Turgenjew und Leskow übersetzte er 1930 den zweiten Roman von Vladimir Nabokov, König Bube Dame.

Zweierlei Welten, getrennt durch eine „gläserne Wand“

Sein Großwerk, die Familiensaga Die baltische Tragödie, entstand 1933/34. Der erste Band des bereits als Trilogie angekündigten Werkes erschien 1933 unter dem Titel Blumenbergshof. In ihm schildert Vegesack seine Kindheit, die mit dem frühen Tod des Vaters und dem Umzug nach Riga endet. Vegesack erzählt aus der Perspektive des heranwachsenden Jungen, der sich die Welt erschließt und für den noch viele Dinge, die für Erwachsene selbstverständlich sind, der Erklärung bedürfen. Es sind im Grunde zwei Welten, in denen der Junge sich bewegt: die Welt der deutschen Oberschicht, in der es gesittet und geruhsam zugeht, und die Welt der einfachen Leute, der Unterschicht, die größtenteils aus Letten besteht und die derber, aber lebendiger ist. Durch den Blick des kleinen Aurels von Heidenkamp auf die Welt gelingt es Vegesack, diese zu schildern, ohne sie zu verdammen oder zu verherrlichen, sodaß ein differenziertes Bild entsteht.

Vegesack bezeichnet die Grenze zwischen den beiden Welten als „gläserne Wand“, die immer dünner wird, bis sie schließlich ganz zerbricht. Das ist das Thema des zweiten Bandes, Herren ohne Heer (1934), der den Zeitraum bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschreibt. Hier geht es um das Gymnasium, wo das verhaßte Russisch gelernt werden muß, weil Deutschunterricht verboten ist und nur im Hinterzimmer gegeben werden kann. Es geht aber auch darum, daß die Verhältnisse außer Kontrolle geraten, der russische und der lettische Nationalismus zunehmen, die sozialen Spannungen steigen und sich in ersten Gewaltexzessen entladen. Aurel steht immer etwas abseits, beobachtet und macht sich Gedanken. Am Ende muß der Student, der sich viel auf sein Deutschtum zugute hält, erfahren, daß er im Reich als Deutsch-Russe begrüßt und für seine hervorragenden Deutschkenntnisse bestaunt wird.

Hier deutet sich an, was am Anfang des dritten Bandes, Totentanz in Livland (1935), steht, als einer der Brüder in den Krieg und als russischer Staatsbürger gegen sein eigenes Volk kämpfen muß. Was bis dahin nie ein Problem war, weil man sich einbildete, lediglich in einem besonderen Treueverhältnis zum Zaren zu stehen, wird im Zeitalter des Nationalismus’ zur tödlichen Falle. Vegesack hat diesen Band „dem Andenken der Männer, die für ihre Heimat starben“ gewidmet und die Informationen aus Erlebnisberichten bezogen. Bezogen auf die Hauptfigur, die in die bürgerkriegs­ähnlichen Kämpfe verwickelt wird und schließlich nach Deutschland ausreist, ist es jetzt ein wirklicher Roman. Aber Aurel bleibt weiterhin der Sonderling, der er immer war.

Mit der Trilogie, die in der einbändigen Ausgabe weite Verbreitung fand, stieß Vegesack auf große Resonanz, sodaß sich die Frage nach seiner Haltung zum Nationalsozialismus stellte, in dem er seine größten Erfolge feiern konnte. Günter Scholdt ist dieser Frage in einem Aufsatz nachgegangen und zu dem Schluß gekommen, daß Vegesack gerade durch seine Prägung als Baltendeutscher ein distanziertes Verhältnis zum Dritten Reich gehabt hatte. Er wußte, welch verheerende Wirkungen die totalitären Ideologien hatten, zog daraus aber andere Schlüsse als beispielsweise der Baltendeutsche Alfred Rosenberg. Seine Distanz wird nicht zuletzt in seinen weiteren Veröffentlichungen aus der NS-Zeit deutlich. Der Spitzpudeldachs und andere Tiergeschichten aus dem Bayrischen Wald (1936) und Das Kritzelbuch (1939) enthalten zahlreiche, ziemlich deutliche Satiren auf Rassedünkel und Konformismus. Unter fremden Sternen (1938) schildert mit großem Einfühlungsvermögen die Verhältnisse in Südamerika, insbesondere die des bedrohten Deutschtums, aber auch die der Eingeborenen.

Die baltendeutsche „Heimkehr ins Reich“ bedeutete für Vegesack den Untergang einer ganzen Kultur.

Aber auch an Vegesack ging diese Zeit nicht spurlos vorbei. Er war als Übersetzer im rückwärtigen Gebiet der Ostfront im Einsatz (Soldaten hinterm Pflug, 1944) und mußte den Soldatentod seines einzigen Sohnes (Mein Junge, 1948) hinnehmen. Das Baltikum ließ ihn jedoch nicht los. Er schilderte in Der letzte Akt (1941 als Fortsetzungsroman erschienen, 1957 als Buch) das Ende der Deutschen im Baltikum, das mit der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes eingeläutet worden war. In einem Zusatzprotokoll war die Umsiedlung der Baltendeutschen vereinbart worden, die Ende 1939 in das gerade eroberte Warthegau erfolgte. Vegesack stand dieser „Heimkehr ins Reich“ kritisch gegenüber, weil sie den endgültigen Untergang einer ganzen Kultur bedeutete. Für seine Familie erwies es sich als Glücksfall, daß er schon frühzeitig neue Wurzeln in Bayern geschlagen hatte. Er konnte seinen drei Brüdern im „Fressenden Haus“ Unterschlupf bieten. In diesem Haus ist Vegesack 1974 gestorben. Man entsprach seinem Wunsch und begrub ihn an seiner Lieblingsstelle im Wald, wo noch heute ein Totenbrett an ihn erinnert.

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