von Ulrike Raich
Als russische Truppen ab dem 24. Februar 2022 auf ukrainisches Gebiet vorstießen, erlitten sie beim Angriff auf die Hauptstadt Kiew eine schmerzliche Niederlage. Ziel war es zunächst gewesen, den Flughafen mit einer Luftlandeoperation einzunehmen. Ein kühner Plan, der fehlschlug. Das zwang die russische Führung, alle Truppen auf dem umständlicheren Landweg vorrücken zu lassen. Der erwies sich allerdings als tödliche Falle, weil ohne Lufthoheit die Ukrainer die Militärkolonnen aus der Luft und dem Hinterhalt angreifen konnten. Nun sollte Kiew – immerhin doppelt so groß wie Wien – eingekreist werden. Auch das mißlang, zumal die Nachschubwege weit, die Flüsse wegen der Sprengung der Brücken durch die Ukrainer unüberwindbar waren und die Logistik mangelhaft. Pannen, führungstechnische Probleme und ukrainische Angriffe taten ihr Übriges. Der Vorstoß endete schließlich mit dem Abzug der russischen Truppen aus dem Großraum Kiew am 2. April 2022.
Schon einmal haben die Russen eine Niederlage in einer Schlacht um die ukrainische Hauptstadt erlitten – im Deutsch-Sowjetischen Krieg während des Zweiten Weltkrieges.
Bis Anfang August 1941 hatten die Spitzen der deutschen 6. Armee im Rahmen des Unternehmens Barbarossa die westlichen Vororte Kiews erreicht, drangen aber nicht in die Stadt selbst ein. Die Heeresgruppe Süd umfing stattdessen die Stadt und schloß am 15. September 1941 bei Lochwyzja, 200 Kilometer östlich von Kiew, den weiten Ring um die ukrainische Hauptstadt. Vier vollständige Armeen und Teile von zwei weiteren Armeen, mehr als 700.000 sowjetische Soldaten, waren eingeschlossen. Von Mitte August bis Ende September 1941 kam es dann zu großen Kesselschlachten, die die Wehrmacht für sich entschied. Das deutsche Vorgehen war militärisch gesehen sehr erfolgreich, verzögerte jedoch den Vorstoß auf Moskau – was später kriegsentscheidend werden sollte.
Als die Kämpfe um Kiew am 26. September 1941 zu Ende gingen, waren 43 sowjetische Divisionen besiegt. Mindestens 100.000 deutsche Soldaten hatten ihr Leben oder ihre Unversehrtheit verloren. Die Verluste auf sowjetischer Seite fielen mit 150.000 Toten und Verwundeten noch größer aus. 1996 stellte die Gebietsverwaltung Kiew ein drei Hektar großes Gelände zur Verfügung, das etwa 40.000 deutsche Gefallene der nördlichen Zentralukraine aufnehmen wird. Der Sammelfriedhof liegt etwa 20 Kilometer außerhalb der Stadt, Richtung Odessa. Die Namen der Gefallenen sind auf stehenden Granatstelen für die Nachwelt festgehalten. Bisher sind hier mehr als 26.000 deutsche Gefallene zur Ruhe gebettet worden.
Die ukrainische Hauptstadt fiel am 19. September 1941 fast kampflos und blieb bis Dezember 1943 unter ukrainisch-deutscher Verwaltung. Historiker bezeichnen die Schlacht um Kiew als größte militärische Einzeloperation der Geschichte. Auch sie wurde, wie die Schlacht 2022, außerhalb der Stadt entschieden, und beide Schlachten gingen für die Russen als Niederlage aus. Nur mit dem Unterschied, daß 1941 täglich mehr als 10.000 Soldaten ihr lassen mußten. Allein in der Ukraine fielen während des Zweiten Weltkrieges mehr als 400.000 deutsche Soldaten.
Die Opfer der Schlacht um Kiew 2022 sind noch nicht bekannt. Bisher wurden mindestens 1.150 zivile Opfer registriert. Etwa 162 ukrainische Soldaten sollen getötet und rund 748 verwundet worden sein. Die Verluste auf russischer Seite sind bisher nicht veröffentlicht worden, aber sie werden auf ein Vielfaches geschätzt.
Der ukrainische Präsident sprach Anfang Februar 2025 davon, daß 45.100 ukrainische Soldaten seit der russischen Invasion im Februar 2022 auf allen Schlachtfeldern gestorben seien. Vom Kreml gibt es kaum Angaben über die eigenen Verluste in den mehr als drei Kriegsjahren. Sie dürften jedenfalls deutlich höher als jene der Ukraine sein.
Bekannt sind die Schäden des Kampfes um Kiew: Für die Stadt veröffentlichte Bürgermeister Vitalij Klitschko Ende Februar 2023 folgende Zahlen: Insgesamt wurden mehr als 700 Gebäude beschädigt, darunter 417 Hochhäuser, 109 Privathäuser und 93 Lehranstalten. In der 3-Millionen-Metropole gibt es geschätzt 30.000 bis 40.000 Gebäude. Kiew sieht also fast genauso aus wie 2022.
Das Bild vom Russisch-Ukrainischen Krieg ist ein anderes als das, was insbesondere wir Deutschen mit unseren ausradierten Städten und den gigantischen Verlusten an Menschen und Land im Zweiten Weltkrieg vor uns sehen und in uns tragen.