von Benedikt Kaiser
Kaisers Zone (1)
Es herrscht wieder einmal Unruhe unter dem bundesdeutschen Himmel. „Kommt der Wutwinter?“, fragten sich etablierte Medien, beispielsweise die Sächsische Zeitung, bereits Mitte August. Die Regionalzeitung aus der sächsischen Landeshauptstadt Dresden leitet dramatisch ein: „Sachsen könnte dabei einmal mehr zum Hotspot werden.“ Aber auch weit elbabwärts, in Hamburg, berichtet die Hamburger Morgenpost über die nahenden Proteste ob der (politisch hausgemachten) Energiekrise. Der Chemnitzer Sozialforscher Piotr Kocyba warnt dort vor den Entwicklungen und sieht – natürlich! – Sachsen als kommenden Brennpunkt; denn hier hätten sich in den vergangenen Jahren feste Protestmilieus gebildet.
Zehntausende auf der Straße
Kocyba liegt – erstens – richtig: Im Freistaat Sachsen, zwischen dem Vogtland und dem kleinen bei Deutschland verbliebenen Zipfel Niederschlesiens um Görlitz, hat sich eine in dieser Größe bundesweit einmalige Protestlandschaft gebildet. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel faßt es so: „Der Freistaat Sachsen ist eine Art Seismograph in Sachen Volkszorn.“ Man kann hierbei auf die „Spaziergänge“ verweisen, die seit nunmehr über zwei Jahren montags in einer Vielzahl von Kommunen stattfinden. Sie richten sich ebenso friedlich wie vielfältig gegen die restriktive Coronamaßnahmenpolitik. Seit März dieses Jahres mobilisieren auch andere Themen, darunter die Gas- und Versorgungskrise, die Kocyba und Co. als Vehikel für neue Proteste fürchten. Zehntausende Sachsen sind jeden Montag auf der Straße; in Tausend-Seelen-Gemeinden wie auch in den drei Großstädten des Bundeslandes, in Chemnitz, Dresden und Leipzig. Im Herbst und Winter wird die Teilnehmerzahl aller Voraussicht nach massiv ansteigen.
Aber schon vor der Coronakrise blühten in Sachsen „organische“, also von unten nach oben wachsende Protestmilieus: Der Bewegung Pegida, die ihren Zenit vor Jahren überschritten hat, gelang es zwischen 2014 und 2020, migrationskritische Montagsdemos durchzuführen. Im Januar 2015 konnte man den bis dahin beispiellosen Spitzenwert von über 30.000 Teilnehmern in Dresden vermelden. Das Übergreifen von Pegida auf andere Metropolen wie Leipzig (Legida) konnte nur durch massive linksextreme Bedrohungspotenziale verhindert werden. Tritt man einen weiteren Schritt zurück, ist man bei den – ebenfalls montags stattfindenden – lagerübergreifenden Demos gegen Sozialabbau der „Agenda 2010“ der Jahre 2004 ff. Noch weiter zurückgeblickt landet man dann schon in den „Wendejahren“ 1989 und 1990, als von Plauen und Leipzig aus die Original-Montagsdemos die Verhältnisse in der unter Erich Honecker darbenden DDR zum Tanzen brachten. Durch Proteste in Sachsen wurde die SED-Herrschaft in Ost-Berlin unterminiert. Das heißt: Sachsen brachte den Stein ins Rollen. Ein Umstand, der seitdem im politisch-historischen Bewußtsein des hier beheimateten stolzen Menschenschlages fest verankert ist.
„Mosaik-Rechte“ – und darüber hinaus
Kocyba greift indessen – zweitens – zu kurz: Denn wenn man explizit darauf verweist, daß „in den vergangenen Jahren“ jene Protestmilieus entstanden sind – die übrigens quer durch alle Alterskohorten und quer durch alle Gesellschaftsschichten reichen – verliert man eventuell den Blick für bedeutende Zusammenhänge, die über beides hinausgehen: über „reinen Protest“ einerseits, über die „vergangenen Jahre“ andererseits. Sachsen verfügt nämlich über das, was man als „Deutschlands patriotische Sammelstelle“ bezeichnen könnte: ein wachsendes Reservoir von volksverbundenen Initiativen und Parteien, Bürgervereinigungen und medialen Multiplikatoren. Kein Landkreis ist diesbezüglich ein unbeschriebenes Blatt. Es gibt flächendeckend Anlaufstellen, Netzwerke und Ansprechpartner des patriotischen Lagers mit unterschiedlichster politischer Ausrichtung (von christlich-konservativen bis zu explizit nationalistischen Strukturen). In der Landeshauptstadt hat sich seit vielen Jahren als zusätzliche Besonderheit eine Oase des Lesens und Lernens herausgeschält: Das „Buchhaus Loschwitz“ wird von Susanne Dagen geführt, einer beliebten Stadträtin der Freien Wähler (FW). Diese Wählervereinigung ist allerdings nur in Dresden selbst (und nicht im Rest des Bundeslandes) betont konservativ und freiheitlich ausgerichtet.
Sachsen verfügt damit über ein „Mosaik“ aus patriotischen Bausteinen. In der politischen Theorie und Praxis versucht man, ein solches als ein arbeitsteiliges Ineinandergreifen parlamentarischer und außerparlamentarischer Akteure zu fassen. Vorauszusetzen ist die zeitlose Erkenntnis, daß sich Parlament und Bewegung wie „Standbein und Spielbein“ (Rosa Luxemburg) ergänzen müssen. Denn so wichtig es ist, im gesellschaftlichen, also im vor- bzw. „metapolitischen“ Gestaltungsraum Veränderungen herbeizuführen, so wichtig bleibt es natürlich auch in Sachsen, daß es eine effektive Parlamentspartei gibt. Eine Parlamentspartei, die darauf hinwirkt, daß diese Ideen nach und nach in Gesetzesvorlagen etc. münden. Ein weiterer ihrer Zwecke ist es zudem, daß Ideen und Standpunkte aus dem „Vorfeld“ mittels parlamentarischer und massenmedialer Öffentlichkeit breitestmögliche Bekanntheit erlangen.
Hochburg der Alternative für Deutschland
Daß die AfD als Wahlpartei des volksverbundenen Mosaiks bei den letzten größeren Wahlen im Freistaat Bestergebnisse erzielte, ist auch, aber nicht nur, auf diese vielgestaltige patriotische Landschaft zurückzuführen. Sie verstärkt Normalisierungseffekte und festigt heimatbewußte Positionen in weiten Teilen der sächsischen Gesellschaft. Zur Bundestagswahl 2017 wurde die AfD mit 27 Prozent der gültigen Listenstimmen (sog. Zweitstimmen) stärkste Partei des Bundeslandes. Bei der Europawahl 2019 wurde man mit dem Spitzenmann Maximilian Krah (MdEP) erneut stärkste Kraft (25,3 Prozent). Bei der Landtagswahl im selben Jahr konnte Spitzenkandidat und Fraktionschef Jörg Urban (MdL) 27,5 Prozent erzielen. Auch 2021, bei der letzten Bundestagswahl, behauptete man unter dem Parteichef Tino Chrupalla (MdB) mit 24,6 Prozent weiterhin den ersten Platz im Freistaat. Gleichwohl besteht für die AfD in ihrem Kraftzentrum Sachsen insbesondere auf kommunaler Ebene noch reichlich Luft nach oben. Bei den Landrats- und Bürgermeisterwahlen im Juni und Juli 2022 konnte man die Dominanz der Christdemokratie nirgends aufbrechen. Im Gegenteil: Man blieb als Alternative weit hinter den Erwartungen zurück und konnte weder Landrats- noch Bürgermeisterposten gewinnen. Auch im „blauen Sachsen“ besteht demzufolge reichlich Optimierungsbedarf im parlamentarischen Beritt.
Außerparlamentarische Motoren: Von „Ein Prozent“ bis „Freie Sachsen“
Jenseits dieses parlamentarischen Feldes sind zwei weitere Beispiele für patriotisches Engagement aus und in Sachsen anzuführen. Eines ist dabei erwachsen aus der sogenannten „Neuen Rechten“, eines aus der eher „Alten Rechten“. Obschon diese beiden Begriffe problematischen Charakters sind (was der Autor dieser Zeilen an anderer Stelle in Buchform ausführen wird), kann man anhand dieser Schematisierung verdeutlichen, daß in Sachsen patriotische Politik nicht einseitig oder gar monopolartig erwachse. Sie kennt vielmehr verschiedenste Artikulationsweisen.
Das „neurechte“ Beispiel wird durch die in Dresden beheimatete Bürgerinitiative und Vernetzungsplattform „Ein Prozent“ verkörpert. Die erfahrene Kernmannschaft um den Wahlsachsen Philip Stein besteht aus einer kleinen Gruppe von Aktivposten. Das drumherum geschaffene Bürgernetzwerk wird jedoch von tausenden Bürgern aus der gesamten Bundesrepublik getragen und unterstützt, wobei Sachsen naturgemäß den Schwerpunkt darstellt. Dort agiert man mit einem Haus- und Büroprojekt als „Motor“ der gesamten patriotischen Szenerie, vernetzt Bürgergruppen, organisiert Kampagnen zur Wahlbeobachtung, koordiniert politische Vor-Ort-Arbeit, erstellt Infobroschüren und Studien (Themenbereiche von Asyl bis Linksextremismus), leistet mit dem einmaligen „Solifonds“ (solifonds.me) konkrete Hilfe für Aktivisten der „ersten Reihe“, die beispielsweise von Linksextremen angegriffen wurden, und betreibt den wichtigsten patriotischen Podcast der BRD („Lagebesprechung“). „Ein Prozent“ ist somit ein Projekt, das in dieser Form der Professionalität und Arbeitsteilung nur in Sachsen entstehen konnte.
Ebenfalls nur in Sachsen gedeihen konnte das wiederum eher „altrechte“ Beispiel der „Freien Sachsen“ (FS). Diese seit Anfang 2021 konstant wachsende Formation, die durch die „Spaziergänge“ der Anti-Coronamaßnahmen-Proteste deutschlandweit bekannt und gefürchtet wurde, ist mittlerweile auch eine Partei. Sie liebäugelt mit einem unabhängigen Sachsen, das sich an die Visegrád-Staaten annähert und die Bundesrepublik Deutschland verläßt („Säxit“). Die FS haben dort, wo sie im Sommer 2022 erstmals zu kommunalen Wahlen angetreten sind, zweistellige Ergebnisse erzielen können. Insbesondere in ihren Hochburgen im Erzgebirge und in der Sächsischen Schweiz geschah das auf Kosten der AfD. Diese sieht sich fortan konstantem Druck „von rechts“ ausgesetzt. Die Köpfe der FS stammen zumindest zum Teil aus alteingesessenen Zusammenhängen (von NPD und Kameradschaften bis PRO-Bewegung), verstanden es aber in der heißen Coronaphase insbesondere über das Medium „Telegram“ (150.000 Abonnenten), zehntausende Sachsen neu anzusprechen oder gar erstmals zu „politisieren“. Deshalb spricht der sächsische Verfassungsschutzchef Dirk-Martin Christian von den Freien Sachsen als „Mobilisierungsmaschine“.
Sachsens „Wehrbereitschaft“
Einerlei, für welches Segment des in Sachsen so vielfältigen patriotischen Spektrums man Sympathien hegt und für welches nicht: Augenfällig ist, daß unterschiedlichste Akteure unterschiedlichste Resonanzräume für ihre politische Arbeit finden. Linken Strömungen, die es auch in Sachsen mit geographischen Schwerpunkten in Dresden und vor allem Leipzig gibt, erschwert das ausgerechnet in der Krise, neue Räume zu erschließen und das Gelegenheitsfenster zu nutzen. Hans Vorländer, Politologe aus Dresden, spricht es offen aus: „Die vielen rechten Gruppen […] decken diesen Bedarf sehr effektiv ab.“
In Sachsen vergegenständlicht sich damit gewissermaßen die politische Restvernunft in der BRD. Das hat neben landsmannschaftlichen Spezifika und starken Regionalidentitäten nicht zuletzt historische Gründe. Denn die „Erfahrung der Sachsen“, so der sächsische Schriftsteller Jörg Bernig in der Zeitschrift Sezession, „sich gegen ein oppressives System erfolgreich zur Wehr gesetzt zu haben, unterscheidet sie einerseits von Westdeutschen wie Westeuropäern und verbindet sie andererseits mit den anderen Mitteleuropäern – und versetzt sie offensichtlich wieder in die Lage, sich zu wehren“.
Weil diese Erklärung Bernigs realitätsgedeckt ist, bekommt die Furcht von Piotr Kocyba, der Sächsischen Zeitung und Co. vor einem „Wutwinter“ in Sachsen neuen Auftrieb. In wenigen Monaten werden wir wissen, wohin das führt – und ob sich der widerspenstige Freistaat vom Rest der Republik wieder einmal als explizite Sammelstelle patriotischen Aufbegehrens abhebt.
In der neuen Kolumne Kaisers Zone auf
www.dereckart.at wird Benedikt Kaiser ab 15. September regelmäßig über die Geschehnisse in Mitteldeutschland informieren und aktuelle Entwicklungen einordnen.
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent. In seinem zuletzt veröffentlichten Buch Die Partei und ihr Vorfeld (antaios 2022, 104 S., € 10) führt Kaiser aus, was er unter „Mosaik-Rechte“ versteht und wie es dem volksverbundenen Lager auch unter widrigen Umständen gelingen könne, die politischen Verhältnisse zum Besseren zu verändern.