von Benedikt Kaiser
Kaisers Zone (28)
Es ist eine der häufigsten Fragen, die man zur Lage in den „Neuen Bundesländern“ gestellt bekommt: Wieso sind dort so viele Menschen „russophil“, vornehmlich, wenn es sich um Patrioten handelt?
Tatsächlich drängt sich die Frage förmlich auf: Aktuell gibt es Proteste in Sachsen gegen den weiteren Zuzug von Ausländern – dort zu sehen sind häufig Rußlandfahnen. Aktuell gibt es Demonstrationen in Sachsen-Anhalt für Ausgleichspolitik statt NATO-Expansion – dort zu sehen sind häufig Rußlandfahnen. Aktuell gibt es den Trend, auf „X“ (ehemals „Twitter“) als Bekenntnis für oder gegen etwas Nationalfarben hinter seinem Namen zu ergänzen – dort zu sehen sind häufig Rußlandfahnen.
Das hat entgegen landläufigen Mythen nichts mit einer etwaigen Umerziehung der heutigen Ostdeutschen durch die ehemaligen sowjetischen Besatzer zu tun. Anders als in Westdeutschland, wo die konzertierte Aktion der „Reeducation“ inklusive Amerikanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg durchschlug (vom „Wir“ zum „Ich“, vom „Volk“ zur „Bevölkerung“, von der Mitte Europas zu einem Appendix der westlichen Welt usf.), gab es in der DDR kein vergleichbares Großprojekt der Besatzer. Russische Soldaten waren da, Moskau war der Lehrmeister – aber heute sind die Ostdeutschen nicht „russifiziert“, viele Westdeutsche hingegen amerikanisiert. Die demonstrierte Rußlandfreundschaft liegt stärker an zeitgenössischen Problemen und dem Ende der Geduld mit dem Westbindungsfetisch. Ich nenne drei Beispielgründe.
Erstens: Die Sanktionspolitik der BRD gegen Rußland trifft den kleinteiligen, ostorientierten Mittelstand in Sachsen, Brandenburg oder Mecklenburg und bewirkt Einkommenseinbußen. Zweitens: Während „der Russe“ für viele Westler das Sinnbild für „das Böse“ ist, wissen die Ostdeutschen, daß „der Russe“ vor 1990 meist kaserniert lebte und nach 1990 abzog, der Amerikaner aber (im Westen) blieb – inklusive bedrohlichen Atomwaffenarsenals. Drittens: Während Rußland Deutschland keine Befehle erteilen kann, sehen sich viele Ostdeutsche aus dem Westen bevormundet, ob dieser nun durch Washington oder die Ampelkoalition in Berlin vergegenständlicht wird.
Die demonstrativ bekannte „Freundschaft mit Rußland“ ist daher als Symptom der weiteren Entfremdung vom hegemonialen Westen zu deuten, aber auch als gelegentlich naiv anmutende Projektion, daß die Welt in Rußland viel intakter sei als hierzulande.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.