Neue Serie: Mythen, Sagen, Wundersames (II)
von Alain Felkel
Vor achtzig Jahren feierte die UFA-Film in Berlin ihr 25jähriges Bestehen mit der Premiere des Kostümdramas Münchhausen. Die Abenteuer des Lügenbarons sollten die Deutschen von der Niederlage in Stalingrad ablenken, erinnerten jedoch erst recht wieder an die eisigen Gefilde der Sowjetunion. Denn kaum ein Werk der deutschen Literatur ist hinsichtlich seiner Entstehung so eng mit Rußland verbunden wie Münchhausens Lügenmärchen.
Im November 1737 bot sich dem jungen Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen aus Bodenwerder bei Hameln die Chance seines Lebens. Im Alter von nur 17 Jahren reiste er nach St. Petersburg, wo er im Februar 1738 als Page in die Dienste von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel eintrat. Herzog Anton Ulrich war Kommandeur eines Kürassierregimentes und diente Zarin Anna von Rußland im Österreichisch-Russisch-Türkischen Krieg, der bereits 1736 entbrannt war.
Die Kämpfe gegen die Türken waren zwar von Erfolg gekrönt, aber verlustreich. Zwei Pagen des Prinzen waren bereits im Juni 1737 beim Sturm auf die Festung Otschakow am Schwarzen Meer gefallen. Auf Münchhausen wartete also eine heikle Aufgabe. Doch der junge Niedersachse war ihr gewachsen. Bald erhielt Münchhausen seine Feuertaufe, die er bestand. Er scheint sich im Gefecht so gut bewährt zu haben, daß ihm Prinz Anton Ulrich drei Pferde, Schabracken und zwei Pistolen schenkte. Der Krieg verlief auch insgesamt günstig für die Russen, was an der umsichtigen und energischen Führung des deutschstämmigen Generalfeldmarschalls Burkhard von Münnich lag. Wie es schien, hatte Münchhausen auf das richtige Pferd gesetzt. Er machte Karriere und stieg 1740 erst zum Fähnrich, dann zum Leutnant im Kürassierregiment seines Dienstherren auf.
Ein Staatsstreich mit Folgen
Zu diesem Zeitpunkt schien das Zarenreich fest in deutscher Hand. Nach dem Tode Zarin Annas von Rußland wurde ihr Günstling Ernst Johann von Biron, Herzog von Kurland und Semgallen, zum Regenten Rußlands, da der designierte Thronfolger, Zar Iwan VI., erst ein Jahr alt war. Doch dessen Mutter, Großfürstin Anna Leopoldowna, duldete die Tyrannei Birons nicht und stürzte ihn mit Hilfe Münnichs noch im November 1740. Der Umsturz sollte sich bald rächen. Die unerfahrene Fürstin verstand nichts von Politik und zerstritt sich mit Münnich, der im März 1741 sein Amt niederlegte. Nur ein Jahr nach ihrem Regierungsantritt putschte wiederum Elizabeth Petrowna, die Tochter Peters des Großen, gegen die Regentin und verbannte diese zusammen mit deren Ehemann Prinz Anton Ulrich nach Sibirien. Der einjährige Zar kam in die Festung Schlüsselburg, wo er 1764 unter ungeklärten Umständen verstarb.
Politisches Überleben in Rußland
Münchhausen hatte mehr Glück. Der junge Leutnant kämpfte gerade im Russisch-Schwedischen Krieg in Livland und mußte seinem Dienstherrn nicht in die Gefangenschaft folgen. Trotzdem hatte der Sturz des Prinzen auch für ihn schwerwiegende Konsequenzen. Seine Karriere kam ins Stocken. Sie nahm erst wieder Fahrt auf, als er 1744 mit einer kleinen Eskorte von 20 Kürassieren die deutsche Prinzessin Sophia von Anhalt-Zerbst, die spätere Zarin „Katharina die Große“, auf dem Weg zu ihrer Hochzeit mit dem russischen Thronfolger Großfürst Peter Fjodorowitsch – dem zukünftigen Zaren Peter III. – durch Litauen geleitete. Dennoch dauerte es weitere sechs Jahre, bis Münchhausen zum kaiserlich-russischen Rittmeister befördert wurde.
Münchhausens Rückkehr in die Heimat
Münchhausen gab sich mit dem Erreichten zufrieden und nahm 1750 Urlaub von seinem Regiment, nachdem seine Mutter verstorben war. Zusammen mit seiner Ehefrau Jacobine von Dunten reiste er in seine Heimatstadt Bodenwerder, um den Nachlaß zu regeln. In der Heimat angekommen schied er aus dem russischen Militärdienst aus. In Bodenwerder kümmerte sich Münchhausen um die Verwaltung seiner Güter. Nebenbei entwickelte er eine derartige Fabulierlust, daß er zur lokalen Berühmtheit wurde. Mit seinen Erzählungen zog er nicht nur Einheimische, sondern auch viele Durchreisende und Fremde in den Bann. Doch so gefeiert der weltgewandte Erzähler auch war, so wußte er doch nicht Kapital aus seinen Geschichten zu schlagen. Dies taten dann andere.
Geschichte eines Weltbestsellers
Im Jahr 1761 publizierte Graf Rochus Friedrich zu Lynar drei Erzählungen, die eindeutig auf den Freiherrn Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen anspielten. Zwanzig Jahre später veröffentlichte ein anonymer Erzähler in der Zeitschrift „Vademecum für lustige Leute“ 16 Geschichten „des Herrn M-h-s-n“. Diesen folgten 1783 noch zwei weitere Lügenmärchen, die 1785 ins Englische übersetzt wurden und den Titel Baron Munchhausen’s Narrative of his marvelous Travels and Campaigns in Russia erhielten.
Der anonyme Verfasser war Rudolf Erich Raspe, ein einst gefeierter Universalgelehrter, der aufgrund eines Münzdiebstahls 1775 dazu gezwungen gewesen war, Deutschland zu verlassen. Raspe, der den Freiherrn offenbar kannte, veröffentlichte bis zu vier weitere Bände mit Lügengeschichten unter Münchhausens Namen, weil er dringend Geld brauchte. 1786 übersetzte Gottfried August Bürger Raspes anonym verfaßte Abenteuer erstmals ins Deutsche und verhalf damit dem Werk hierzulande zum Durchbruch. Später folgte eine zweite Übersetzung von ausgewählten Geschichten aus Raspes Erzählungen.
Münchhausen-Geschichten als prägendes Sittenbild Rußlands
Der erste Erzählzyklus in Bürgers Volksbuch trug den Titel Münchhausens Reise nach Rußland und St. Petersburg und prägte für Jahrzehnte das Bild der Deutschen vom Zarenreich. Mit Münchhausens Abenteuern kam Rußland überhaupt erst in die deutschen Wohnstuben. Geschichten wie vom Pferd an der Kirchturmspitze, dem Schlittenwolf, dem halbierten Pferd oder dem betrunkenen russischen General, aus dessen Kopf beim Lüften des Hutes Alkoholwolken aufsteigen, haben ein klischeehaftes Bild Rußlands gezeichnet. Zu guter Letzt findet sich auch Münchhausens berühmtestes Abenteuer – der Ritt auf der Kanonenkugel – in Bürgers Übersetzung, obwohl es nicht in Raspes Originalwerk vorkommt. Bürger selbst hat diesen zu Raspes „Münchhausen“ hinzugefügt und damit den Phantasten Münchhausen für immer in das große Buch der grotesken Lügengeschichte eingeschrieben.
Das traurige Ende des echten Münchhausens
Münchhausens Lügenmärchen trafen den Geschmack nicht nur der deutschen Leserschaft, sondern waren auch in Großbritannien, Frankreich, Spanien und Rußland populär, was dem echten Münchhausen zutiefst zuwider war. Der Freiherr fühlte sich seines guten Namens beraubt und zur Witzfigur degradiert. Zumal der literarische Münchhausen in immer neuen Erzählvarianten mit neuen Abenteuern verlegt wurde. Vollends vom Schicksal geschlagen wurde Münchhausen, als er im Alter von 73 Jahren nochmal heiratete. Bereits in der Hochzeitsnacht betrog ihn seine blutjunge Braut Bernhardine Brunsig von Brunn, später ruinierte sie ihn finanziell, weswegen Münchhausen die Scheidung verlangte. Doch seine Gattin hatte gute Anwälte. Diese diffamierten Münchhausen aufgrund seiner vermeintlichen Lügengeschichten als „Lügenbaron“, sodaß der Richter ihm keinen Glauben schenkte. Erst nach einem dreijährigen Prozeß, der ihn endgültig ruinierte, wurde Münchhausen von seiner zweiten Frau geschieden und verstarb am 22. Februar 1797. Zu diesem Zeitpunkt war sein literarischer Doppelgänger bereits unsterblich geworden.
Münchhausen auf der Kinoleinwand
Bis heute sind unzählige Münchhausiaden geschrieben und Filme gedreht worden, wovon der erfolgreichste der von Josef Goebbels in Auftrag gegebene Münchhausen ist. Der in Agfa-Color gedrehte Streifen wurde zum Kassenschlager des Dritten Reiches und spielte 25 Millionen Reichsmark ein. Daß der Film tricktechnisch neue Maßstäbe setzte, lag übrigens auch an Konstantin Tschet, einem Russen. Gekonnt setzte der erfahrene Kameramann mit für die damalige Zeit erstaunlichen Tricks die Abenteuer Münchhausens um, sodaß der Film in dieser Hinsicht keinen Vergleich mit damals üblichen Hollywoodproduktionen zu scheuen brauchte.