von Caroline Sommerfeld
Anders als bei den Gallizismen und Anglizismen in der deutschen Sprache, die man am leichtesten durch das Phänomen der „Modesprache“ einst und jetzt erklären kann, sind sogenannte „Russizismen“ bei uns keiner Mode geschuldet. Es handelt sich um solche Wörter, die die deutsche Sprache aus dem Russischen als Herkunftssprache oder über das Russische als Vermittlersprache entlehnt hat. Lehnwörter sind anders als echte Fremdwörter in ihrer Formbildung an die Aufnahmesprache angepaßt worden. Alle russischen Ausdrücke, die jeder Deutsche kennt, die aber auf der Sachebene nur in Rußland beheimatete Dinge bezeichnen wie „Kopeke“, „Kreml“, „Samowar“ oder „Matrioschka“ tauchen in Listen von Russizismen meines Erachtens fälschlicherweise auf. Hingegen sind „Mammut“ („mamont“), „Zobel“ („zobol“) „Schamane“ („schaman“) und „Steppe“ („schtep“) echte Russizismen.
Wie kann man dann aber erklären, daß es in unserer Muttersprache noch mehr als diese Handvoll Russizismen gibt? Eine Erklärung ist die Politik. Sowohl aufgrund der europäischen Heiratspolitik im Absolutismus als auch in beiden Weltkriegen und natürlich zu DDR-Zeiten sind russische Lehnwörter und Fremdwörter eingewandert. Alles in allem handelt es sich um sehr wenige Wörter, die auf dem Wege des Sprachwandelgesetzes zu deutschen Fremd- bzw. Lehnwörtern geworden sind. Das Sprachwandelgesetz, übrigens von dem russischen Linguistenehepaar Piotrowskij aufgestellt, besagt, daß zunächst Einzelsprecher (oder -schreiber) ein fremdsprachliches Wort verwenden. Hörer oder Leser greifen es auf, es erfährt eine exponentiell ansteigende Verbreitung, erreicht einen Höhepunkt, an dem es „jeder kennt“ und oft nicht einmal mehr für fremd hält, worauf es dann weniger oft verwendet wird und dem Bestand der Aufnahmesprache anverwandelt wird.
Die kalten Krieger Kosmonaut und Astronaut
Politisch motivierte Erstverwendungen dürften bei „Samisdat“, „Kosmonaut“ und „Pogrom“ vorgelegen haben und zwar mit jeweils völlig unterschiedlichen Motiven. „Samisdat“ entstand aus „sam“ (selbst) und „isdatjelstwo“ (Verlag) und war in der DDR eine Bezeichnung für systemkritische und dadurch gezwungenermaßen selbst verlegte Literatur. Der „Kosmonaut“ wurde im Kalten Krieg bewußt als Neuwort in die Sprache der DDR eingeführt, um das amerikanische Modewort „Astronaut“ zu verdrängen. „Pogrom“ bedeutet im Russischen allgemein „Verwüstung, Krawall“, die Einengung auf die Bedeutung „ethnische Säuberung“ geschah in der Vergangenheitsbewältigungssprache der BRD.
Anders sieht es z.B. mit dem Wort „Dawaj!“ aus: Hier dürften wir es mit einem Beinahe-Russizismus – denn kein Deutscher gebraucht das Wort anstelle von „Los!“, auch wenn Scherzbolde „DDR“ als Abkürzung von „Dawaj! Dawaj! Rabotaj!“, also „Los, los, arbeiten!“, interpretierten – zu tun haben, der eigentlich ein Germanismus im Russischen ist.
Ein russischer Sprachwissenschaftler hat nämlich herausgefunden, daß das Wort aus dem Deutschen stammte und ins Russische übernommen worden war. Danach sollen Kutscher, die nach Rußland reisten, ihre Pferde mit „weiter, weiter“ („weit(d)a, weit(d)a“) angetrieben haben. Russen verstanden in Umkehrung der Silben „t(d)awai“.
Ein „schtempel“ vom „potschtamt“
Deutsche Lehnwörter im Russischen wiederum sind zuallermeist entweder Peter dem Großen oder Katharina der Großen zu verdanken. 1703 begann Peter mit dem Bau „seiner“ Stadt, Sankt Petersburg. In der neuen Hauptstadt ließen sich Handwerker nieder, darunter viele deutsche Drucker, Setzer und Uhrmacher. Und Zarin Katharina war bestrebt, Deutsche im Zarenreich anzusiedeln, insbesondere in dessen südlichem und südöstlichen Teil, an der Wolga. Diese Wolgadeutschen nahmen aus der Heimat vor allem Wörter aus den Bereichen Handwerk, Technik und Kunst mit – die Politik des Zaren und der Zarin erbrachte den Effekt, der Lesern meiner Sprachkolumne von den Anglizismen und Gallizismen her bekannt ist: Fortschritt bringt Neuwörter.
Es dürfte nicht schwer sein, die folgenden russischen Germanismen aus dem 18. Jh. zu verstehen, hier in phonetischer Umschrift: „tsiferblat“, „schtempel“, „potschtamt“, „parikmacher“, „marschrut“, „galstuk“ oder mein Lieblingswort aus dieser Sammlung: Ich hörte in Wien im Supermarkt heuer zwei Ukrainerinnen über das geplante Abendessen sprechen, des Russischen selbst nur äußerst rudimentär kundig, und die eine Dame tat mir den Gefallen, einen Vorschlag zu äußern, den ich gut verstand: „Buterbrot“!