von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (36)
Er hatte „mehr Demokratie wagen“ wollen, war von dem „besseren Deutschland“ mit großen Vorschußlorbeeren bedacht worden – und scheiterte als Bundeskanzler am Ende ruhmlos: Die Rede ist von Willy Brandt (geboren als Herbert Ernst Karl Frahm), der vor nunmehr 50 Jahren, am 7. Mai 1974, als BRD-Regierungschef zurücktrat.
Hauptgrund für Brandts Rücktritt bildete die Affäre um Günter Guillaume, Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit und NVA-Offizier, der 1956 als „Flüchtling“ in die Bundesrepublik kam und von Beginn an die SPD-Parteiarbeit infiltrieren sollte. Ab 1970 im Bundeskanzleramt tätig, dazu ab Herbst 1972 persönlicher Referent Brandts kümmerte er sich u. a. um dessen Parteitermine, da der Kanzler ja auch SPD-Vorsitzender war. Als einer von Brandts engsten Mitarbeitern begleitete ihn Ostberlins Mann im Machtzentrum des Klassenfeindes sogar privat und im Urlaub. Das erzählte auch Brandts jüngster Sohn Matthias, der später als Schauspieler den Mann darstellte, der seinen Vater zu Fall gebracht hatte.
Allzu fahrlässig ging nicht nur das Kanzleramt mit dem schon seit Anfang 1973 bestehenden Verdacht um, Guillaume sei ein Spion. Auch der damalige Bundesinnenminister Genscher tat das: Er beließ diesen auf seinem Posten und ließ ihn nur observieren, um mit Zustimmung Brandts Material gegen ihn zu sammeln. War das bloß Schlamperei oder bewußtes Laufenlassen einer Sache, die dem DDR-Regime brisante Geheimnisse zuspielen konnte?
Doch Anfang März 1974 kochte der Kessel langsam über, und am 24. April wurden Günter Guillaume und seine Ehefrau verhaftet. Der DDR-Spion schwieg in der Folgezeit beharrlich, während dem Kanzler nun manche Tändeleien mit Frauen und Alkoholprobleme auf die Füße fielen. SPD-Fraktionschef Wehner, der ohnehin gegen Brandt intrigierte, hielt diesen für nicht stark genug, eine Schlammschlacht durchzuhalten und stützte ihn nicht. Brandt, der sich in dieser Sache auch von seiner Ehefrau Ruth alleinegelassen fühlte, entschloß sich zum Rücktritt – auch um zu zeigen, daß ein Bundeskanzler nicht „erpreßbar“ sei.
Die Heuchelei Wehners erreichte ihren Gipfel, als „Onkel Herbert“ bei der Sitzung der SPD-Fraktion im Bundestag einen großen Blumenstrauß auf Brandts Platz legte. Das alles ließ den Brandt-Intimus Egon Bahr in Tränen ausbrechen, weshalb er sein Gesicht in seinen Händen verbarg. Auch hier zeigte sich, daß, wer Parteifreunde hat, keine Feinde mehr benötigt.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.