von Till Kinzel
Einst war der Bremer Dichter weithin bekannt und beliebt – seine Gesammelten Werke erschienen in mehreren Bänden bei Suhrkamp, und er war Träger namhafter Literaturpreise. Doch auch über Rudolf Alexander Schröder ist eine Vergessenheit gekommen, die er nicht verdient hat. Sie ist einem Zeitgeist geschuldet, der von der Tradition in Kunst und Dichtung nicht mehr viel wissen möchte. Und daher auch mit einem Dichter nichts mehr anfangen kann, der nicht den Anspruch erhob, originell zu sein. Schröder verstand sich als Erbe einer Tradition, die er als Dichter weitertragen wollte.
Norddeutschland – „Eine Landschaft, die wir kennen und lieben, weil sie die unsre ist“
Er war aber ebenso der Erbe einer Landschaft, der norddeutschen Tiefebene, die dem von Süden kommenden Reisenden als einförmig und langweilig erscheinen mag. Denn was könne man hier Landschaft nennen? Man sehe „einen Kiefernwald, einen Heiderücken, eintönige Wellen angebauten oder wüsten Landes, hier und da einen Bach, einen Flußlauf, da und dort ein einzelnes Haus“ – alles andere als die Gedrängtheit des Berglandes, auf dem Schlösser und Burgen thronen. Und doch ist es eine Landschaft, so Schröder, „die wir kennen und lieben, weil sie die unsre ist“ und die nur für das uneingeweihte Auge hinter einem Schleier verborgen scheint. Schröder widerspricht mit Schwung dem abschätzigen Urteil Schillers über die Weser, die dem Dichter nicht den geringsten Stoff zu bieten habe. Aber eine Landschaft ist nicht nur ein geographischer Raum, der sich präzise abgrenzen ließe. Die norddeutsche ist die niederdeutsche Landschaft – jener Raum, in dem die niederdeutsche Mundart gesprochen wird oder doch bis vor einiger Zeit gesprochen wurde. Eine Landschaft ist zudem der Raum der Geschichte, die in Städten ebenso wie in wilden Schlachten ihren Ausdruck fand. Der deutsche Norden umfaßt Magdeburg und Goslar nicht weniger als Königsberg – und die Hansestädte Hamburg und Lübeck sowie Schröders eigene Heimatstadt Bremen.
Patriotischer Künstler und Bohemien
Schröders prägende Bremer Herkunft verdichtet sich in dem Wort „Tagenbaren“ – damit bezeichnet man diejenigen, die von in Bremen geborenen Eltern selbst in Bremen geboren wurden. Und für diese alteingesessenen Bremer aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lagen, so Schröder, die Paradiesfelder ihrer Jugend rund um das alte Rathaus, in dem neben Kaiserbildern und Schiffsmodellen auch das Marmorstandbild des Bürgermeisters Johann Smidt stand, dessen Sohn mit Schröders eigenem Vater eine Firma gegründet hatte. Eben dieses Standbild gab Schröder erstmals das „Gefühl des eigenen Verknüpftseins mit der Vergangenheit seiner Vaterstadt“.
Der Junge wuchs dort in einer frommen Kaufmannsfamilie auf und absolvierte das humanistische Gymnasium; aber ein Studium, für das er nach München ging, schloß er nicht ab; er zog das Leben als Künstler und Bohemien vor. Von der Ästhetik des Jugendstils um die Jahrhundertwende beeindruckt verdiente sich Schröder seinen Lebensunterhalt sehr erfolgreich als ein Architekt, Innenarchitekt und Designer in Bremen, der eindrucksvolle Raumkunst entwarf – besonders gelungen z. B. im Falle des Rauchsalons für den Schnelldampfer „Bremen“ des Norddeutschen Llyod.
Wie viele seiner Zeitgenossen stand Schröder als Jugendlicher unter dem Einfluß nicht nur Goethes und der Romantiker, sondern vor allem von Schopenhauer und Nietzsche. Erst später, im Zuge einer Wiederannäherung an den christlichen Glauben, ging er zu diesen auf Distanz – und wurde selbst zu einem populären Dichter von Kirchenliedern, nicht zuletzt geprägt durch Paul Gerhardt. Einige dieser Kirchenlieder fanden später sogar Aufnahme im Evangelischen Kirchengesangbuch.
Zu den engsten Freunden Schröders gehörten seit der Jahrhundertwende Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal, Repräsentanten einer konservativen Revolution in der Dichtung, mit denen er in ständigem Austausch stand. Distanziert bis ablehnend war dagegen Schröders Verhältnis zu Stefan George, für dessen Anspruch eines dichterischen „Priesterkönigtums“ er keinerlei Verständnis aufbrachte. Mit seinem Vetter Alfred Walter Heymel und Otto Julius Bierbaum gab er die dem Jugendstil verbundenen Zeitschrift Insel (1899) heraus, die Keimzelle des späteren gleichnamigen Verlages, wo lange auch Schröders eigene Bücher erschienen. Ebenso spielte er eine programmatische Rolle bei der 1910 gegründeten Bremer Presse, die Werke der Weltliteratur in schönen Handpressendrucken verlegte.
Wertschätzung eher des Fortsetzens und Wiederholens als des Neubeginnens
Im Ersten Weltkrieg wurde Schröder gleich im August 1914 zur Marineartillerie auf die Insel Wangerooge eingezogen und 1915 nach Brüssel versetzt. Noch 1914 erscheint im Insel-Verlag jener Gedichtband Heilig Vaterland, dessen Gedichte nachhaltig zu Schröders Ruf als patriotischer Dichter beitrugen. Dazu gehörte vor allem das Gedicht „Deutscher Schwur“, das mit großem Pathos die Gefahr der Umkreisung Deutschlands, den Wehrwillen und die Opferbereitschaft der Söhne des Vaterlandes beschwor. Schröder empfand als Dichter das „Gefühl des Eingegliedertseins in einen jahrtausendealten Zusammenhang“, woraus für ihn die Wertschätzung eher des Fortsetzens und Wiederholens als des Neubeginnens auch in dichterischer Hinsicht folgte. Er stand der künstlerischen Avantgarde mit ihren Sprachexperimenten kritisch gegenüber. Vielmehr zeugen seine Dichtungen von einer Beherrschung der traditionellen lyrischen Formsprache, in der auch Reime noch selbstverständliche Elemente darstellen – es findet sich bei Schröder kein „Stottern der Gefühligkeiten“, so ein Wort von Franz Blei. Vor allem das Kirchenlied verkörperte für Schröder sein Traditionsverständnis, weil nicht „das Neue oder Überraschende, sondern das Gewohnte und Bewahrte“ sein Gesetz bilde und damit als einzige zeitgenössische Lyrikform das antike Erbe angetreten habe.
Pflicht als der deutscheste aller Begriffe
Obwohl selbst „Nicht-Preuße“, schätzte Schröder Preußen als den einzigen europäischen Staat, der seinen heimlichsten und höchsten Auftrag „vom Geiste her“ erhalten habe. 1934 publiziert er eine Rede über Das deutsche politische Weltbild im Werk und Leben Goethes, in der er gegen die These vom unpolitischen Goethe argumentiert und den Deutschen zuschreibt, ein Rechtsvolk wie wenige andere zu sein: Persönlicher Anspruch und persönliche Verpflichtung stünden im Dienst einer allseitigen Gerechtigkeit. „Pflicht“ war für Schröder nichts Geringeres als „der deutscheste aller Begriffe“.
Als Mitglied der „Bekennenden Kirche“ war Schröder mit der „Inneren Emigration“ verbunden. Vor allem seine 1935 geschriebene Ballade vom Wandersmann (1937), ein Gedichtzyklus mit klassischem Reimschema, legt davon Zeugnis ab. Eine politische Lesart der Ballade als verschlüsselte Opposition liegt nahe: Die Zeilen „Ich schau gebannt, / Im fremden Schandgesicht / Die eigne Schand“ weisen gedanklich voraus auf Schröders spätere protestantisch geprägte Reflexionen und Bekenntnisse zur Mitschuld an der NS-Diktatur, die seit Mitte der 1940er-Jahre seine nationalkonservative Haltung überlagern. Für Jochen Klepper war Schröder ein „durch und durch nationaler Mann“ und der protestantisch geprägte „letzte Europäer“. Die nationale Ausrichtung Schröders zeigt sich nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch in einer skeptischen Frage angesichts der Resultate von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg, ob man nicht das Kind mit dem Bade ausschütte, wenn man nun auf Begriffe wie „Volksgeist“ verzichte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt er in Altenbeuern die programmatische Rede Vom Beruf des Dichters in der Zeit. Hier bezeichnete er sich gemeinsam mit Borchardt und Hofmannsthal als „Diener und Treuhänder“ der abendländischen Überlieferung in der Kunst, als deren gleichsam geheime Quintessenz zwei Punkte zu nennen seien: Erstens könne das „innerste Wesen aller Kunst“ damit bestimmt werden, „Trost über die Vergänglichkeit des Daseins“ zu sein. Daraus folge zweitens die Aufgabe aller Kunst, nämlich „Rettung des Vergänglichen ins Unvergängliche, ins Bleibende“. Auch unter politisch schwierigen Verhältnissen, die drängende Aufgaben auf die Tagesordnung setzten, verteidigte Schröder so mit großer Entschiedenheit die Beschäftigung mit Literatur als notwendige „geistige Ausweichstelle“. Das macht ihn als Dichter und Essayist aktuell.